Kapitel 1 - Der Sängerfluch
Es dunkelte schon, als der Wagen auf der schlammigen Straße zum Stehen kam. Es regnete und die Spielleute mussten sich beeilen, wenn sie heute Abend noch im Trockenen sitzen wollten. Petrè und die Mädchen bauten schnell ihre bunten Zelte auf, während Razuel sich zu der Wagenplane hinter sich wandte: „Du kannst rauskommen.“ Zögerlich tat sich etwas. Eine Kinderhand, bleich, wie mit Kalk bestrichen, kam hervor und löste vorsichtig die Seile, welche die Plane mit dem Wagen verbanden. Dann kam das kleine Mädchen hervor. Ganz im Gegensatz zum Rest ihrer Truppe, war sie käsebleich. Ihr langes Haar war rabenschwarz und endete in ein paar Locken. Ein paar Strähnen verdeckten ihr linkes Auge teilweise. Sie blickte ängstlich zu ihrem Anführer, grade so als warte sie auf seinen Befehl. Razuel nickte ihr zu und sie stand lautlos auf. Dann holte sie die anderen Sachen aus der Plane hervor – ein paar Töpfe, Decken, Kissen, jede Menge Tücher… und gab sie ihm. Darqueria wusste, dass sie mit niemandem reden sollte. Sie sollte am besten gar nicht existieren! Doch er hatte es ihm geschworen… „Du bist zu streng zu ihr.“, sagte Salome. Ihre grünen Augen blickten besorgt zu dem kleinen Mädchen. Sie hatte etwas anziehendes an sich, das Razuel schon immer fasziniert hatte… es lag nicht an ihrem kastanienbraunen Haar oder ihrem überaus attraktiven Gesicht, welches einfach jeden entwaffnen konnte, wenn sie lächelte. Nein… es lag vielmehr an ihrer Wärme. Als wäre die Sonne Shurimas selbst in ihrem Herzen. „Sie ist eine Gefahr für andere. Ich tue nur, was richtig ist.“ Salome verdrehte die Augen: „Ich glaube nicht, dass es DAS ist, was Ivan wollte. Er wollte, dass du sie beschützt. Nicht, dass du sie als eine Art Gefangene hältst. Sie ist nur ein Kind.“ Razuel schnaubte und bemerkte bitter: „Du vergisst, dass SIE die Schuld an seinem Tod trägt.“ Salome wollte etwas erwidern, wurde jedoch von einem erstickten Schluchzen unterbrochen. Sofort stand sie auf: „Darqueria?“ Sie hörte nur noch den Wind. Razuel blickte betreten drein. Offenbar hatte sie die beiden gehört…
Darqueria lief weiter in den Wald hinein. Sie achtete nicht auf Dornen oder Äste die an ihrer Kleidung zerrten – sie wollte nur weg. Der Weg verschwamm unter ihren Tränen. Sie lief immer weiter… weg von ihrer Truppe. Ivan hatte sich geirrt. Sie gehörte nirgendwo hin. Sie war keine Saltatio Mortis… sie hatte keinen Clan, keine Truppe, keine Familie. Und eigentlich war sie ja nicht einmal wirklich ein Mensch, auch wenn sie wie einer aussah. Darqueria strauchelte auf dem rutschigen, schlammigen Boden, die rissigen Steine machten ihre nackten Füße kaputt… aber das war egal. Sie war ohnehin nicht erwünscht. Es gab keinen Ort, an den sie gehörte… Plötzlich stolperte sie unvermittelt über eine Wurzel , rutschte durch den Schlamm und fiel letztendlich einen niedrigen Felsvorsprung hinunter. Sie sah verschwommen. Irgendwas steckte in ihrem Bein, doch wenn sie versuchte es herauszuziehen, schrie sie auf. Der Schmerz war unerträglich. Sie versuchte aufzustehen, schaffte es jedoch nicht. Aber vielleicht war das ja gut so. Vielleicht war es gut zu sterben. Stunden vergingen und der Wind heulte lauter. Es war kalt und sie begann zu zittern… kein Wunder, schließlich trug sie nur die schwarze, bauchfreie Kleidung der Totentänzer, der Saltatio Mortis, zu denen auch Ivan, ihr Ziehvater gehört hatte. Schluchzend wickelte sie sich in ihr Tuch und dachte an ihn zurück… Ivan kam, anders als der Rest ihrer shurimanischen Truppe, aus Freljord, einer kalten Gegend. Er war der letzte der Saltatio Mortis – einem uralten Stamm dessen Mitglieder auch die Totentänzer genannt wurden. Den Saltatio Mortis war alles Leben heilig. Den Namen trug dieser kleine Stamm, weil sie ein aufwendiges Ritual zur Beisetzung ihrer Toten hatten. Stirbt ein Familienmitglied des Clans, dann und nur dann tanzen die Saltatio Mortis. Darqueria hatte einen solchen Tanz nur ein einziges Mal gesehen… damals, als Tante Milenka starb. Milenka war zwar nicht wirklich Ivans Schwester, aber er behandelte sie wie eine. Ivan behandelte sie alle so, als seien sie Teil seiner Familie… einer Familie die er nicht mehr hatte. Sein Dorf wurde von Räubern überfallen und nur er und Milenka entkamen. Da sie nicht wussten wohin, beschlossen sie als fahrendes Volk umherzuziehen, wie es ihre Vorfahren einst taten und die Menschen mit ihren Liedern zu beeindrucken. Reisen können lang und beschwerlich sein… es war kein Zuckerschlecken, doch Darqueria konnte sich noch lebhaft an Ivans Lächeln erinnern, wenn sie in eine neue Stadt kamen und die Leute wegen ihrer Musik vor Freude zu tanzen begannen. Ivans Truppe nahm immer wieder neue Gesichter auf… meistens Menschen die von ihrer eigenen Familie nicht geduldet wurden, so wie Petrè. Petrè war schon seit langer Zeit dabei, nachdem seine Familie einen Attentäter beauftragt hatte, seinen Liebhaber umzubringen. Aber bei Ivans Truppe war es egal wen du liebst, wie du aussiehst oder welche Vergangenheit du hast. Ivan war jedem gegenüber herzlich und aufgeschlossen. Sie machten damals in Shurima halt, einem Land, dessen weite Teile aus Wüste bestanden. Doch das war egal – Hauptsache der Wagen fuhr weiter ohne im Sand stecken zu bleiben. Einmal war dies tatsächlich geschehen und Ivan bat in einem nahegelegenen Dorf um Hilfe… zumindest war es mal ein Dorf. Ivan kannte es von früher, ein einfaches Dorf, nette Menschen - doch als er zurückkehrte fand er nur Rauch und Asche vor. Und eine kleine Gruppe von verängstigen und heimatlosen Dorfbewohnern. Darunter befanden sich auch Salome, Razuel, die alte Zaod und die Zwillingsschwestern Illena und Sharai. Natürlich nahm Ivan sie auf. Zu allen baute er in kurzer Zeit einen freundschaftlichen Kontakt auf – bis auf einen. Razuel war verschlossen. Er sprach nicht, murmelte nur finster vor sich hin. Er hatte Hass und Groll in den Augen. Fast als wäre er in einer Trance der Rachsucht… Eines Abends erzählte Ivan den Zwillingen eine Legende seines Volkes. Die Legende des Sängerfluches. Auch Darqueria hatte er sie erzählt. Sie erinnerte sich noch gut daran... „vor langer Zeit, hundert Jahre oder mehr ist es her – zog ein einsamer Musiker durch die Lande. Seinen Namen vergaßen die Menschen meist wieder, doch seine Lieder waren so wundersam, dass sie sich auf ewig in die Herzen der Menschen einbrannten. Man sagte, wenn dieser Musiker auf Friedhöfen spiele, kämen sogar die Seelen der Verstorbenen aus ihren Gräbern hervor, um ihm zuzuhören. So kam der Musiker in eine Stadt. Zur selbigen Zeit war da ein Kaufmannssohn. Es war für ihn an der Zeit gewesen, sich zu entscheiden was er aus seinem Leben machen wolle – wollte er des Vaters Werk erlernen? Freund und Sohn zu Geld und Ehren? Oder war es ihm bestimmt, dass seine Hand ein Schwert sich nimmt? Stund um Stund grübelte der Jüngling nach, als er in der Ferne des Musikers Lied hörte. Und eine Stimme so klar und rein wie er sie noch nie gehört hatte. Plötzlich waren die Sorgen wie weggeblasen und der Jüngling folgte der Musik. Er blieb bis der Morgen graute, lauschte den zauberhaften Klängen. Und als der Spielmann sich zum Gehen wandte, bat der Kaufmannssohn, ihn zu begleiten. Der Alte blickte ihn grübelnd an. Könne er das wirklich? Alles aufgeben, alle zurücklassen, nur um für die Musik zu leben? Doch der Jüngling ließ sich nicht abschütteln, egal wie eindringlich der Alte es ihm auszureden versuchte. Da gab er sich schließlich geschlagen und lehrte ihm sein Handwerk. Der Jüngling überflügelte seinen Meister schon bald beim Lautenspiel und sie wurden im ganzen Land bekannt. Da wurden sie sogar zum Hofe des Königs eingeladen. Eine solche Ehre konnten sie nicht ausschlagen und so kamen sie schon bald in den Palast. Der König jedoch wirkte angespannt. Doch die Beiden ließen sich nicht lumpen und schlugen die Saiten so voll wie noch nie. Ihr Lied schien sogar die Seelen aller Menschen im Saal in ihren Bann zu ziehen. Ein jeder hörte ihrem Lied hingerissen zu – doch nur einer schien ihnen Missgunst darzubringen. Der König stand plötzlich auf und streckte den Jüngling nieder, rasend vor Eifersucht, vor Neid dieser wundersamen Stimme und der magischen Laute. Der alte Spielmann trug seinen Schüler gebrochen zur Türe hinaus. Doch bevor er ging, drehte er sich noch einmal zum König um und ruft aus: ‚Weh dir du Mörder, du Fluch des Sängertums! Fahr nieder zu Boden, ersauf in deinem Blut! Vergessen dein Name, dein Laib zu Staub verbrannt, Gestürzt sein deine Hallen, deine Reiche übermannt!‘ - der König lachte daraufhin nur. Doch schon bald zog tatsächlich Krieg ins Land. Die Ritter des Königs waren in der Unterzahl und starben einer nach dem anderen. So kam es, dass der König selbst ermordet wurde – die Klinge seines Gegners steckte genau dort, wo er einst den Jüngling verwundet hatte. Von seiner Festung sind heute nicht einmal mehr Ruinen übrig und den Namen des Königs oder seines Reiches hat man schon längst vergessen… das Einzige was nicht in Vergessenheit geraten war, war des Sängers Fluch. Angeblich hatte der alte Spielmann seine magischen Lieder in einem Buch aufgeschrieben. Ein Buch mit schwarzen Seiten und weißer Schrift. Man nennt es das schwarze Oratorium. Der Alte nun allein verzweifelte nach dem Tod seines Gefährten. Er bat die Göttin der Musiker, eine heidnische Göttin namens Salora, seinen Schüler, der noch alles Leben vor sich hatte, wiederzubeleben und stattdessen ihn in den Tod zu rufen. Salora willigte ein, unter einer Bedingung: Dass sie das schwarze Oratorium bekäme, denn die Lieder darin waren zu mächtig in den Händen eines Sterblichen. Sie entschied, dass nur eine unsterbliche Seele sie einzusetzen vermochte. Schließlich soll es darin Lieder geben, die totes Land in sekundenschnelle fruchtbar machen konnten, die Leben nehmen und geben konnten oder die sogar die Seelen selbst versklaven konnten. Der alte Spielmann willigte ein und der Jüngling erwachte wieder zum Leben. Dieser trauerte um seines Meisters Tod, doch der Alte hatte ihm sterbend in den Armen liegend gesagt: „Trauere nicht mein Sohn. Wenn ich tot bin… dann sollst du tanzen.“ So wurde die Tradition der Totentänzer gegründet. Angeblich habe sich der Jüngling anschließend in die Göttin der Musik, Salora, verliebt. Doch Krieg zog erneut ins Land… getrieben und angeführt von dem mächtigsten aller Dämonen. Dem Dämonenkönig Val’Garoth, einem Wesen aus einer anderen Dimension, das nur ein Ziel hatte – Runeterra zu vernichten. Salora fürchtete um die Menschen von Runeterra und der Jüngling wollte alles tun, um ihr zu helfen. Doch konnte er nichts weiter als Laute zu spielen… so reiste er nach Ionia, wo ihm ein Meister die Kunst der zwei Schwerter beibrachte. Endlich gerüstet zum Kampf gegen Val’Garoth stürzte sich der Jüngling aufs Schlachtfeld… er schaffte es mit Saloras Hilfe einen Riss in die Dimension zu erschaffen, doch zu einem grausamen Preis… Seine eigene Seele opferte er dafür. Salora, wahnsinnig vor Schmerz, folgte seiner Seele und dem Dämonenfürst in den Riss, wo auch sie zugrunde ging. Doch der Dämonenkönig wurde besiegt. Dem Helden wurde ein Grab in Ionia zuteil, fernab von Menschen, gut verborgen, damit es niemand finden konnte. Denn als Grabbeilagen sollen dort das schwarze Oratorium und die Zwillingsklingen liegen. So erzählt es die Legende.“ Diese Legende war schon seit Urzeiten im Stamm der Totentänzer verankert und Razuel glaubte daran. Er bat Ivan ihm alles zu erzählen, was er darüber wusste. Razuel war besessen vom schwarzen Oratorium – er wollte es unbedingt finden - vielleicht konnte er mit dessen Macht Rache an jenen nehmen, die sein Dorf zerstört hatten. Ivan erklärte sich zögerlich einverstanden… Sie fanden es tatsächlich. In einer Höhle, gut verborgen zwischen dem Gestrüpp. Doch sie fanden abgesehen von den Zwillingsklingen und dem Liederbuch etwas, das sie nicht erwartet hatten… ein Kind…
Darqueria fragte sich oft wie sie in dieser verlassenen Grabkammer überlebt haben konnte… und warum sie überhaupt dort lag. Razuel wollte sie dort lassen – schließlich ging von ihr eine seltsame Aura aus und sowieso konnte das nicht mit rechten Dingen zugehen. Doch Ivan blieb stur. Das Leben war heilig für ihn, vor allem das Leben von Kindern. Razuel konnte ihn nicht umstimmen. Er nannte sie ‚Darqueria‘ – was in seiner Sprache ‚die im Schatten geborene‘ heißt. Zunächst schien es, als sei Darqueria ein ganz normales Kind. Doch sie merkte schnell, dass die anderen Kinder sie mieden. Nicht so Ivan. Er erzählte ihr begeistert Geschichten, brachte ihr Lieder aus unterschiedlichsten Ländern bei und Darqueria konnte sie alle singen. Razuel indes versuchte die Lieder des schwarzen Oratoriums zu entziffern – was an sich schon schwierig genug war, denn die Noten waren in Alt-Shurimanisch geschrieben. Und selbst wenn er eines sang, schien es keinerlei Wirkung zu zeigen. Er vergaß das Oratorium. Bis zu jenem Tag… Ivan hatte Darqueria auf dem Arm und Darqueria sang begeistert ein Lied aus dem schwarzen Liederbuch, als der Boden unter ihnen plötzlich erblühte – Feldfrüchte in Hülle und Fülle wuchsen empor, grade reif für die Ernte. Razuel entsann sich, dass nur eine unsterbliche Seele diese Lieder einsetzen konnte… zumindest in der Legende. War Darqueria eine solche? Ivan ließ sich nicht beirren und ließ Darqueria ein Lied nach dem anderen anstimmen, ohne die Wirkung der Lieder in Betracht zu ziehen… am nächsten Tag fand Razuel ihn, tot, Darqueria weinend neben ihm. Sie hatte das Lied des Todes gesungen.
Die Erinnerung an Ivans tote Augen machte ihr noch heute Angst. Es war ihre Schuld. Sie hätte es nie singen dürfen. Darqueria schluchzte leise. Der Wind heulte noch lauter. Es klang fast wie ein Lied. Obwohl es ihr Angst machte – sie liebte es zu singen. Razuel hatte sie bisher immer geschlagen, wenn sie ein Lied ohne seine Erlaubnis angestimmt hatte – aber hier hörte sie wohl ohnehin niemand. Darqueria erhob ihre Stimme mit dem Wind… ein wundervolles Duett, nur der Sturm und sie allein…