Ein Hauch von Freude
Mit zitternden Händen führte Amelie die Krücken vor sich. Ihre Arme hatten kaum die Kraft, das Bein auszugleichen, welches sie nutzlos hinter sich herzog. Das noch intakte Bein verfügte gerade noch über die Muskelmasse, ihren federleichten Körpers zu tragen. Ein Zittern zog durch ihre Brust. Glücklicherweise hatte sie den Stuhl im Wartezimmer bereits erreicht. Sie stellte das Wasserglas, dass sie nur mit Mühe hatte halten können, auf dem kleinen Beistelltisch ab und sah noch einmal zurück zu dem Spender.
Wie weit war er entfernt? Vielleicht ein paar Schritt und sie hatte es kaum bis dorthin geschafft. Das einzig Überraschende war, dass ihr Atem nicht raste, sie konnte frei durchatmen. Vor ein paar Tagen hätte sie dieser Weg noch zum Keuchen gebracht.
Amelie versuchte die mitleidigen Blicke der anderen Patienten zu ignorieren. Sie brauchte keines mehr. Nur noch ein paar Wochen musste sie durchhalten – ihren Eltern zuliebe. Sie beförderte ein Fläschchen nach dem anderen aus ihrer Hosentasche hervor, bis sie das richtige gefunden hatte. Ein paar Tropfen Riluzol und die Welt würde wieder besser aussehen, zumindest für eine Weile.
Elsa erwartete bereits den endzeitlichen Gesichtsausdruck des Doktors, als sich die Tür zum Behandlungszimmer öffnete. Sie presste die Hand ihres Mannes so fest, dass er sich gewaltsam aus ihrem Griff befreien musste. Doch dieses Mal schien sich in das Gesicht des Behandlers ihrer Tochter eine Spur Hoffnung eingegraben zu haben. Es kam ihr sogar so vor, als würde er lächeln, als er sich an den Schreibtisch ihnen gegenüber setzte.
Er klopfte den Stapel Diagnoseblätter ein paar Mal mit der Kante auf die Tischplatte, um einen geraden Stoß zu bilden. Danach legte er sie ihnen hin – wie jedes Mal.
„Wie lange noch?“, stellte Amelies Mutter die Frage, die sie ihm nun sicher schon hunderte Male gestellt hatte.
„Beim letzten Mal lagen meine Schätzungen bei einem Monat. Das ist jetzt zwei Wochen her …“
Elsa senkte den Blick leicht. Es fiel ihr merklich schwerer die Tränen zurückzuhalten, nun da die Krankheit ihr Endstadium erreicht hatte. Ihre Hand suchte blind nach der ihres Mannes. Mit einem ergebenem Seufzer ergriff er sie, beruhigte das unstete Zittern.
„Ich habe ihnen damals eine Sache jedoch nicht gesagt – ich hielt es für einen Zufall.“
Er befeuchtete den Finger und legte zwei Blätter der Diagnose zur Seite, bis der Lungenbefund vor ihnen lag. „Entgegen meiner Erwartung, dass die Lähmung der Atemorgane nun endgültig wird, hat sich ihr Zustand verbessert.“
„Das heißt sie wird noch länger zu leben haben?“ Elsa wusste nicht, ob sie über den Gedanken froh sein sollte. Sie sah, wie sehr sich ihre Tochter von Tag zu Tag quälte. Vielleicht war es besser …
„Ich wage sogar einen Schritt weiter zu gehen.“
Nun mischte sich zum ersten Mal auch Aminas Vater in das Gespräch ein: „Aber sie sagten doch sie wäre unheilbar!“
Ein lang gezogenes Nicken folgte. „Es besteht die Chance, dass ihre Tochter in den letzten zwei Wochen ein medizinisches Wunder gewirkt hat.“
Elsa sprang erregt auf. Sie war hin und hergerissen den Doktor zu umarmen, oder hinauszustürmen und Amelie davon zu unterrichten. Auch der Medicus schien sich dessen bewusst und er beeilte sich sie aufzufordern, ihm weiter zuzuhören.
„Ich habe mit ihrem Therapeuten gesprochen. Er war der Meinung, dass es keine gute Idee wäre, sie einfach so aufzuklären. Sie haben die letzten Monate damit verbracht, sich auf den Abschied vorzubereiten. Amelie hat ihre sozialen Kontakte und wohl auch sich selbst aufgegeben. Die Nachricht könnte ihr einen Schock versetzen. Zudem haben wir keine Sicherheit, dass sie tatsächlich geheilt wird.“
„Aber wir können unsere Tochter doch nicht im Unklaren lassen. Sehen Sie sich Amelie doch einmal an. Sie ist völlig am Ende, nur noch ein Schatten ihrer selbst“, wandte ihr Vater ein.
„Wir haben in diesem Zusammenhang bereits das Jugendamt kontaktiert.“
Das war zu viel für Elsa. Erneut stand sie auf und beugte sich zu dem Arzt vor. „Sie wollen uns unsere Tochter wegnehmen?!“ Ihre Worte mussten sogar auf dem Gang zu hören sein. Elsas Mann beeilte sich, sie mit sanfter Gewalt wieder auf den Stuhl zu manövrieren.
„Nein, ganz sicher nicht“, beruhigte sie der Arzt, „wenn es in ihrem Sinne wäre, dann würde ein Sozialarbeiter sich der Sache annehmen. Er wird versuchen sie möglichst sanft wieder ins Leben zurückzuführen. Wenn sie soweit ist wieder … Freude zu empfinden, dann möchten wir sie gerne einweihen.“
Die Eltern nickten verstehend. Schließlich ergriff Elsa noch einmal das Wort: „Herr Doktor, wie schätzen Sie ihre Chancen ein?“
„Das ist schwer zu sagen. Es wäre mein erster Fall, dass diese Krankheit nicht tödlich ist. Aber es ist auch das erste Mal, dass eine Schädigung dieser Art reversibel ist.“
Amelie wanderte mit gesenktem Kopf durch den weitläufigen Park gegenüber ihrer Wohnung. Seit dem Arztbesuch hatten sich ihre Eltern verändert. Sie hatten sie zum ersten Mal seit langem auf die Schule angesprochen. Sie ging dort schon seit Monaten nicht mehr hin. Wozu auch? Selbst ihr Therapeut hatte ihr geraten, die Zeit zu nutzen. Meist bestand dieser Nutzen aus Besuchen bei ihm; lange, nicht enden wollende Gespräche über den Sinn des Lebens. Aber für diese Woche hatte er ihr ausdrücklich Ausgang verordnet. Sie solle ein wenig ins Freie gehen. Nicht unbedingt die schönste Angelegenheit mit Krücken, aber der muntere Sonnenschein hellte ihr Gemüt ein wenig auf.
„Hey, du!“, rief jemand hinter ihr her. Überrascht wandte sie den Kopf nach hinten. Ein junger Mann, vielleicht fünf Jahre älter als sie, winkte ihr freundlich. Amelie war es nicht gewohnt angesprochen zu werden. Allgemein mieden die Menschen sie, jetzt wo sie krank war. Er sah nicht unbedingt nach einem Dieb oder ähnlichem aus. Was war wohl der Grund, dass er sie ansprach?
„Was willst du?“, rief sie zurück.
„Ich weiß nicht. Ich ging nur gerade durch den Park und dachte mir, was für ein hübsches Mädchen.“ Er kam ihr mit ein paar Schritten näher. Amelie reihte ihn sofort in die Kategorie Perverser ein und wollte schon weitergehen. Andererseits, er sah überhaupt nicht danach aus. Konnte er seine Aussage ernst gemeint haben?
„Ich habe schon gewinnendere Anmachsprüche gehört“, sagte sie gedehnt. Eigentlich eine Lüge. Ihr hatte noch nie jemand den Hof gemacht. Aber in aller Regel gingen Männer in diesem Alter noch eher zögerlich vor. Zumindest war ihr das bisher so vorgekommen.
„Ich hatte keine Zeit mir einen besseren auszudenken.“ Er kam ihr noch näher und stand nun direkt vor ihr. „Du warst so schnell unterwegs, da fürchtete ich, du läufst mir sonst davon.“
„Sehr witzig“, erwiderte sie grimmig.
Er zwinkerte ihr linkisch zu. „War nicht böse gemeint. Hast du dir was gebrochen?“
„Nein, ich …“ Ja was überhaupt? Ihre Muskeln gaben langsam nach? Sie hatte regelmäßig Atembeschwerden? Sie konnte jeden Moment tot umfallen? „Ich gehe einfach gerne mit Krücken.“
„Ich fand die Dinger auch immer ganz toll, als ich mir zweimal mein Bein gebrochen hatte. Darf ich mal?“
War das sein Ernst? Sie hätte fast laut aufgelacht. Aber warum nicht? Er war ihr sympathisch und es war angenehm einmal normal behandelt zu werden. Sie suchte sich eine Parkbank, setzte sich hin und überließ ihm die Gehhilfen.
Sie waren ihm viel zu klein. Aber er machte sich wunderbar damit. Er drehte ein paar Runden, jagte regelrecht mit ihnen dahin, dann setzte er sich erschöpft neben sie.
„Wie heißt du überhaupt?“, fragte er zwischen zwei tiefen Atemzügen.
„Amelie und du?“
„Michael. Schön dich kennenzulernen.“
Sie hätte in diesem Moment niemals gedacht, dass aus diesem dahergelaufenen Kerl, einmal ihr bester – eigentlich ihr einziger – Freund wurde. Sie kamen einfach so ins Plaudern, als kannten sie sich schon seit Jahrzehnten. Stück für Stück taute Amelie auf. Irgendwann war es dann dunkel und er erbot sich sie heimzubringen.
„Kommst du öfter in den Park?“, fragte er beim Abschied nehmen.
„Vielleicht“, entgegnete sie keck.
Und seitdem ging sie tagtäglich dorthin. Sie wanderte oft stundenlang immer wieder dieselbe Runde, bis er dann jedes Mal auftauchte. Manchmal fragte sie sich, was er nur arbeiten konnte, dass er so viel Freizeit hatte. Aber im Grunde war es ihr egal. Sie fühlte sich von Tag zu Tag besser und nahm immer seltener ihre Medikamente. Abends kam sie nicht mehr mit trüben Blick nach Hause, sondern strahlte eine lange verlorene Lebensfreude aus. Er war wie ein Seelenverwandter für sie. Es war erstaunlich wie viele Interessen sie teilten, auch wenn Amelie ihren schon lange nicht mehr nachgegangen war. Nach zwei Wochen glaubte sie sogar, sie könne wieder gehen. Sie legte die Krücken beiseite und machte ein paar tapsige Schritte, fiel dann aber doch hin. Trotzdem kam es ihr so vor, als wären ihre Beine kräftiger.
Seit langem holte sie einmal wieder ihren Malkasten hervor. Früher war sie eine geübte Zeichnerin gewesen. Da hatte sie noch eine Leinwand nach der anderen mit den schönsten Acrylzeichnungen übersät. Nun versuchte sie sich daran ihn zu zeichnen. Am gestrigen Tag war sie dermaßen müde gewesen, weil sie vor Aufregung kaum schlafen hatte können, dass sie auf der Parkbank eingeschlafen war. Sie war puterrot angelaufen, als sie in seinen Armen aufgewacht war. Er hatte nur gelacht, worin sie eingestimmt hatte. Diesen Moment wollte sie nie mehr vergessen. Und sie zeichnete, wie sie bei ihm lag.
Am nächsten Tag lud sie ihn zu sich zum Essen ein. Ihre Eltern – sonst unheimlich misstrauig – waren auffallend nett zu ihm. Amelie wunderte das nicht. Man musste ihn einfach gern haben. Der Abend verlief dann aber unheimlich peinlich, als ihrer Mutter die Ähnlichkeit zwischen dem Mann auf ihrem Bild und Michael auffiel. Natürlich wollte er das Bild sofort sehen, aber sie verweigerte es, denn es war noch nicht fertig. Außerdem war es ihr in diesem Moment viel zu unangenehm. Verliebte sie sich in ihn? Sie wusste es nicht. Er war ihr wirklich ans Herz gewachsen und sie konnte es sich ohne ihn nicht mehr vorstellen.
Den Tag darauf hatte sie ihren letzten Termin bei ihrem Therapeuten. Er kündigte ihr an, dass das ihre letzte Sitzung sein würde. Schwermut überkam Amelie. Stand ihr Tod so knapp bevor? War sie bereit dafür? Sie würde die Sitzungen vermissen, auch wenn es ihr manchmal viel zu lange vorgekommen war. Gerade jetzt hätte sie gerne mit ihm über Michael gesprochen, aber er war auffällig schweigsam. Zum Abschied wünschte er ihr alles Gute. Früher wäre ihr das wie böser Sarkasmus vorgekommen, aber er schien es ernst zu meinen.
In zwei Wochen würde sie wieder einen Kontrolltermin beim Arzt haben. Der Gedanke weckte Trübsinnigkeit in ihr. Sie verfluchte sich innerlich, Michael kennengelernt zu haben. Ihr Therapeut hatte ihr geraten sich von ihren Freunden und Verwandten rechtzeitig zu verabschieden, den Schmerz so klein wie möglich zu halten. Aber was hätte sie tun können? Er hatte sich wie ein Pfeil in ihr Herz gebohrt. Im Bett weinte sie bittere Tränen.
Zum ersten Mal sprach sie Michael auf ihre Krankheit an. Er wirkte sehr verständnisvoll und sagte ihr, dass er gern für sie da wäre, egal was mit ihr war. Das rührte Amelie. Sie hatte erwartet, dass er sich distanzieren würde. Dass es für ihn keinen Sinn machen würde. Doch er wollte es mit ihr durchstehen und ihr Geständnis änderte nichts an seinem Verhalten. Viel eher schien er ihr nun noch mehr zugetan.
Zwei Wochen später kam Amelie nicht mehr zu ihrem Arzttermin. Eine Atemnot, ein Rückschlag, mit dem keiner mehr gerechnet hätte, zwang ihre Eltern den Notarzt zu rufen. Im Krankenhaus angekommen schrieb sie Michael eine SMS, worauf er sofort bei ihr war. Ihre Eltern gingen, auf ihren Wunsch hin, das mittlerweile fertige Bild holen. Es fiel ihnen sichtlich schwer, ihre Tochter alleine zu lassen. Aber sie beruhigte sie, da Michael ja bei ihr war.
Er blieb die ganze Zeit bei ihr. Streichelte ihr über die Wange, während das Beatmungsgerät ihr immer neue Luft einflößte. Das stete Piepen des Herzfrequenzmessers störte sie irgendwann nicht mehr. Sie sprachen keine Worte miteinander. Es war ein stummes füreinander da sein. Sie legte die Hand auf seine Wange. Sie fühlte sich warm und beruhigend an. Seine Hand, die nun sanft durch ihr Haar strich war angenehm. Das Piepen intensivierte sich, sie bekam es kaum noch mit. Der Blick seiner Augen ruhte noch immer auf ihr, als sie die ihren schloss. Das Piepen war zu einem anhaltenden Ton geworden. Sie hörte es nicht mehr.
Eine einzelne dankbare Träne rann aus ihrem Lid und benetzte seine Hand. Sie vermischte sich mit einer Vielzahl weiterer, die aus Michaels Augen gen Boden tropften.