Es muss schrecklich für sie gewesen sein. Ich verstand sogar, dass ich mir ihren Hass zugezogen hatte. Sie setzte all ihre Hoffnung in mich, dass ich ihren Sohn von diesen nichtsnutzigen Junkies fern hielt, doch als auch ich aufgegeben hatte, sah sie sich selbst in einer Verschwörung in der es die ganze Welt auf sie abgesehen hatte. Ihr Seelenheil war im Bruchteil einer Sekunde zerbrochen. Und nie wieder würde jemand ungestraft den Namen ihres Sohnes aussprechen, ohne den Zorn über diese Ungerechtigkeit in ihr zu verspüren.
Während alle anderen Trauergäste bereits verschwunden waren und sich nicht länger dem weinenden Himmel aussetzten, der ihr kostbares Gewand einnässte, stand ich noch lange regungslos vor diesem Holzkasten der nur noch eine leblose Wachsfigur beherbergte. Es war eigenartig. Wann immer das Leben aus einem Körper wich, so schien es, als würde nur noch eine stinkende Wachshülle übrig bleiben. Eine Hülle die irgendwann vermodert und zerfressen unter der Erde liegt und den Parasiten die sich daran nähren einen Grund zum Leben gibt. Was wäre wohl wenn Menschen nicht sterben würden? Woran würden sich diese Wesen wohl dann satt fressen?
Ein Windhauch trieb mir einen Schauer über den Rücken. Erst jetzt bemerkte ich, dass der Tag seinen Rückzug anmeldete. Es dämmerte bereits und mir war bitter kalt.
„Machs gut Mike. Hoffentlich weißt du dein nächstes Leben besser zu nutzen! Wenn es sowas überhaupt gibt…“
Ich wandte mich ab und stapfte den Pfad des Bergfriedhofes zur Straße hinunter. Diese unwirkliche Stille vermochte mich nicht länger in ihren Fängen zu halten. Und ich beschloss die Vergangenheit dort zu lassen wo sie hin gehörte. Vergraben und versteckt vor den Augen des Lebens. Verstaubt und surreal weil jede Wahrheit irgendwann mit der Geschwindigkeit des Lebens untergeht. Unerreichbar für mich. Ich ahnte ja nicht, dass mich noch schlimmere Zeiten ereilen würden, als ich sie bisher durchlebt hatte….
Kapitel 2: Unruhe
Herzrasen… dieses entsetzliche Herzrasen. Wo kommt das her?
Wieso ist es so dunkel?
Wo bin ich nur?
„Hallo? Hört mich jemand? Hallooo?“
Gebannt lauschte ich, lechzend, hoffend auf ein Zeichen darauf dass ich nicht alleine war.
Mein Gleichgewichtssinn sträubte sich gegen den Versuch mich aufrichten zu wollen. Es war zu dunkel, ich konnte nichts sehen. Auf allen Vieren tastete ich mich vor. Was war das nur für ein ekelhafter Geruch? Übelkeit kroch aus den tiefen meines Magens empor. Mein Herz raste schneller und schneller und ein unmenschlich starkes Gefühl von Gefahr zerrte an meinen Gliedern, drohte mich zu lähmen. Irgendwo musste sich doch eine Wand mit einem Lichtschalter befinden. Ich konnte es deutlich fühlen. Die Fugen grober Fließen unter meinen Fingerkuppen gaben mir ganz deutlich zu verstehen das ich mich in einem Raum befinden musste. Wie groß konnte er also sein? Und wie hoch war die Wahrscheinlichkeit in dieser markerschütternden Dunkelheit einen Hinweis darauf zu finden wo ich war. Irgendetwas stimmte nicht. Und mit einem Schlag wurde mir bewusst warum. Es war nicht mehr nur mein Herzschlag der von den unsichtbaren Wänden wieder hallte. Nein. Vielmehr war da ein Röcheln. Das Pfeifen von Lungen die sich unter jedem Atemzug gequält weiteten und in sich zusammenfielen.
„Hallo?“ schrie ich kaum hörbar in der Hoffnung auf eine Reaktion.
Keine Antwort.
Vorsichtig tappte ich weiter. Inzwischen zitterte mein ganzer Körper. Das Röcheln wurde lauter, schien mich von allen Richtungen fluten und einfangen zu wollen. Langsam war ich mir sicher dass dieser widerliche Gestank von verbranntem Fleisch und offenen Wunden stammen mussten. Wer auch immer noch in diesem Raum war, musste schwer verletzt und unfähig sein zu reden.
„AAAH!“
Mein eigener Schrei überschlug sich in meinen Ohren. Irgendetwas warmes, flüssiges rann um meine Handflächen herum und tränkte den Stoff meiner Jeans.
Meine Güte. Hoffentlich nässte sich der Verletzte nicht gerade ein. Der Gedanke durch fremden Urin zu krabbeln trieb meine Übelkeit in ungeahnte Höhen. Es bräuchte nur noch eine Kleinigkeit und ich würde meinen Brechreiz nicht mehr unterdrücken können. Ich durfte jetzt nicht aufgeben. Auf keinen Fall durfte ich die Angst über mich siegen lassen. Behutsam kämpfte ich mich voran.
„Nur nicht aufgeben Alice, alles wird gut… du wirst schon sehn, alles wird gut, hab nur keine Angst..“ flüsterte ich mir ermutigend zu. Doch meine Hoffnungen schwanden mehr und mehr. Mit jeder Sekunde die ich im Dreck kriechen musste bröckelte meine Selbstsicherheit. Und mit jedem Augenblick in dieser bedrohlichen, unwirklichen Umgebung, stemmte sich die Angst in meine Glieder wie eine unsichtbare Gestalt die mein Vorankommen hindern will.
„Waaahaaaa!“ stieß ich aus und unweigerlich schossen mir Tränen in die Augen.
Irgendetwas versperrte mir den Weg. Panisch tastete ich auf dem Widerstand herum und fröstelte als ich bemerkte dass es warm war… Warm und weich. Es bewegte sich, gab federnd, rhythmisch unter meinen Handflächen nach. Aber…. War das etwa? Konnte es sein dass ich…? Ruckartig wandte ich mich um und gab dem Krampfen meines Magens nach. Platschend ergoss sich der Inhalt auf den Fließen. Ganz Zweifels ohne musste ich auf den Verletzten gestoßen sein. Und ohne es zu wollen hatte ich meine Finger in seine Wunden hinein gebohrt. Oder war bereits der ganze Mensch eine einzige Wunde? Meine Gedanken überschlugen sich, drückten mich zu Boden und ließen keine logische Schlussfolgerung mehr zu. Doch irgendetwas hatte sich schon wieder verändert. Was war es nur? Ich drehte mich herum um mich erneut zu versichern ob ich gerade wirklich auf etwas lebendes gestoßen war. Allen Erwartungen zum Trotz griff ich ins Leere. Und mit einem Mal hörte ich nur noch mein eigenes, hektisches Atmen.
>Klack<
„Aaaah!“ Das grelle Licht einer Taschenlampe wanderte direkt in mein Gesicht.
„Wer bist du, was willst du von mir?“ rief ich panisch.
Innerlich zählte ich bis vier. Es hieß, das menschliche Auge brauche vier Sekunden um sich an veränderte Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Diese Sekunden vergingen so unmenschlich langsam. Als meine Pupillen das beißenden Licht endlich akzeptiert hatten, blickte ich mich vorsichtig um und versuchte die Dinge zu deuten die außerhalb des Brennpunktes lagen.
Entsetzt erkannte ich dass es nicht Urin gewesen war, wodurch ich die ganze Zeit gewatet war. Nein, viel schlimmer. Der ganze Raum war über und über mit Blut besuhlt und ich hatte mich auch noch damit beschmutzt.
Das schnarrende Geräusch setzte wieder ein. Das Licht kam näher, immer auf mich fixiert. Näher… immer näher… bis..?
„ NEIN!“ schrie ich verzweifelt und folgte meinem Reflex zu fliehen. Doch ich kam nicht auf die Beine, rutschte aus und landete Bäuchlings auf dem Boden.
Wieder kam es ein Stückchen näher. Das Röcheln. Das Pfeifen. Es kam es ganz eindeutig auf mich zu.
Erneut startete ich einen Versuch auf die Beine zu kommen, blickte mich um und traute meinen Augen nicht. Jetzt musste ich endgültig den Verstand verloren haben. Schützend hielt ich meine Hand vor die Augen. Das, was mich eben noch mit der Taschenlampe fixiert hatte und schleppend auf mich zugekommen war, griff nach meinem Arm, riss mich zu sich nach oben und schrie mir entgegen. Erst war es nur ein unverständliches, gebrülltes Murmeln, dann aber wurden mit jeder Wiederholung verständliche Worte daraus.
„Waaa…. Ha… n… get….“
„Waaaha… du… n… etaaan?!“
„Was… hast du nur…. GETAN?!“
„Nein… bitte… Lass mich los“ flehte ich. Doch mein Handgelenk wurde immer stärker gequetscht.
Diese Situation… das Knacken meines Handgelenkes… es war mir auf unheimliche Art und Weise so seltsam vertraut.
„LASS mich LOS“ wiederholte ich mit Nachdruck und stemmte mich mit aller Kraft gegen den Griff der mich fixieren wollte.
In Panik riss ich mich los und taumelte rückwärts weg. Was nun passierte, rettete meinen Verstand wohl vor dem endgültigen kollabieren. Ich stolperte, stürzte, fiel in ein tiefes, tiefes Loch das schier nie Enden wollte… bis ich am Ende angekommen war. Und erst durch den Aufprall bemerkte ich dieses surrende, nervige Geräusch das mehr und mehr zu einem taktischen, elektronischen Piepen wurde.
Mit einem lauten Schrei befreite ich mich aus meinen Kissen und trampelte meine Bettdecke von mir. Verstört packte ich den schreienden Wecker und pfefferte ihn an die Wand.
„STILL JETZT!“