Die Schneeflocken die beständig den Weg der Anziehungskraft verfolgten, legten eine seltsame, schweigende Decke auf die Menschen. Ich hatte es oft beobachtet, Jahr für Jahr. Wann immer die ersten glitzernden Sterne das Leben der Mutter Erde unter sich begruben, wurde die Welt still und die Kraft der Schwächeren sich mitteilen zu wollen verschwand gänzlich. Genau wie alles andere blühende Leben hier. Alles wehte davon oder ließ sich begraben, bis letztlich nur noch eine Geisterstadt übrig blieb.
Ich war wohl eines dieser schwachen Lebewesen. Sobald die Bäume das tote Laub von sich schüttelten und der eisige Wind seine erfrierende Nachricht mit sich trug, wurde ich schier lautlos und sparsam mit meinen Worten. Ich schloss mein Inneres immerzu ein und hoffte diese lieblose Zeit unbeschadet zu überstehen. Die Zeit in der sich alles eiskalt verwandelte und nicht einmal die Wärme eines Freundes Trost spenden konnte. Der Winter war für mich immer ein Abschnitt des Sterbens. Eine lasche, trostlose Zeit mit der ich mich einfach nicht anfreunden konnte. Meine Freunde waren davon überzeugt, dass ich mit Sicherheit an Depressionen litt und mich dringend einer Lichttherapie unterziehen sollte. Ja, das war ihre logische Erklärung für mein unterkühltes, wortkarges Verhalten. Und sie hatten wahrhaft für alles ihre Erklärung. Doch was wussten sie schon? Meine Version dazu sah etwas anders aus. Und sie hatte einen durchweg bitteren Nachgeschmack. Vielleicht lag es tatsächlich daran das mein Vater an einem kalten Wintertag einfach nicht mehr nach Hause kam und ich innerlich den Countdown vom verschwinden bis hin zur erschütternden Todesnachricht zählte. Jedes Jahr. Vom Fallen der ersten Schneeflocke, bis hin zu der Sekunde in der ich nicht mehr Kind sein durfte.
Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen. Ich griff zum läutenden Telefon und überschlug mich vor Freude als Papa mit seiner warmen freundlichen Stimme erzählte dass er schon morgen, an heilig Abend zu Hause wäre und das Weihnachtsfest mit uns verbringen würde. Ich war so überglücklich und schwor jede Minute zu zählen, bis er endlich bei uns zu Hause wäre. „Sechs Stunden“ hatte er gesagt. „In sechs Stunden bin ich zuhause. Und dann wartet eine kleine Überraschung auf dich mein Herz“. Ja. Mein Herz. So hatte er mich immer genannt wenn er lange weg war um den Lebensunterhalt für uns zu verdienen. Und es waren wertvolle Sekunden in denen ich wusste wie sehr mich mein Vater liebte. Ich ahnte ja nicht, dass ich sie zum letzten Mal hören sollte. Denn in jener trostlosen Nacht in der uns der Himmel zu verschütteten drohte, zog sich das warten in die Unendlichkeit und die Minuten die ich zählte wurden zu einer bitteren Qual. Ich weiß noch, dass ich wie fixiert am Fenster saß und die abertausend Schneeflocken beobachtete, die nach und nach das Haus einkesselten, als wäre es eine Festung die man fest einschließen musste um sie vor Gefahren zu beschützen. Die dichte weiße Decke wuchs bis zu den Fensterscheiben hinauf und es wurde absolut unmöglich das Haus zu verlassen. Doch die weißen Sterne stürzten trotzdem weiter herunter, ohne Rücksicht, ohne Schuld. Mir war fast so als würde der Himmel jemanden beweinen und die vereisten Tränen waren Zeugnis dafür. Sie stießen in Scharen herab als wollten sie einen Massenselbstmord veranstalten. Ich hatte die ganze Nacht mit warten verbracht. Die ganze verdammte Nacht. Am folgenden Morgen war ich wohl doch noch eingeschlafen, denn mein Schrei erfüllte das ganze Haus als ich schlafestrunken die Tür öffnete und eine Sturzflut an Schnee herein polterte. Mama und ich waren zu tode verängstigt, doch niemand von uns beiden verschwendete einen Gedanken daran wie es Papa nun ging. Ich glaube, wir waren derart davon überzeugt das er in Sicherheit war, dass für uns der Gedanke gar nicht in Frage kam das er womöglich in höchster Lebensgefahr schwebte. So verging der heilige Abend ohne ein Lebenszeichen, ohne das wir nach Hilfe rufen konnten und ohne das man in dieser Einöde nach uns suchte. Der Kontakt zur Außenwelt war gänzlich abgerissen. Das ganze Weihnachtsfest saßen wir fest. Eine ganze geschlagene Woche wurde unser Leben vom Schneetreiben begraben. Und danach?...
„Hey Alessa?“
Das quirlige Schreien des aufgeweckten Jungen stieß mich aus meinen Erinnerungen zurück.
„Was fällt dir ein mich so zu erschrecken du Flegel?!“ plusterte ich mich auf und zerwuschelte dem Schwarzschopf seine Haare. „Du musst schon ein bisschen einfühlsamer sein Dusty.“
„Du sollst mich nicht immer Dusty nennen!“ keifte der Schönling zurück „ich bin doch nicht dein Köter, also nenn mich gefälligst beim Namen!“
„Ach, halt die Klappe.“ Gab ich beschwichtigend zurück als ich ihn am Schal packte und an mich zog. „Tu lieber was sinnvolles und küss mich.“ Verträumt blickte ich in seine Augen als sich unsere Lippen näherten und nach einem Treffen flehten. In seinen Umarmungen konnte ich in Liebe ertrinken. Mit seinen Küssen schmeckte ich die süße Essenz dieses intensiven Gefühls. Er war mein sanfter, starker Krieger. Und er war mein Licht wenn um mich herum die Dunkelheit ausgebrochen war. Mein ein und alles. Vorsichtig drückte er seinen Körper an den meinen und bewies mir eindringlich wie sehr er mich liebte. Für immer hätte ich so da stehen können, hätte mein Körper nicht nach einem befreienden Seufzer verlangt. Nach Luft ringend löste ich den Kuss und zupfte verspielt an seiner Jacke. Ich ahnte es schon, sein Blick verriet ihn und noch bevor er seinen Mund öffnete wusste ich das er gleich zu einer Frage ansetzten würde.
„Sag mal Alessa“ sang er fröhlich los „morgen ist doch Samstag. Hast du nicht Lust mit mir ins Kino zu gehen?“ Wie konnte ich diesen warmherzigen Augen eine Bitte ausschlagen. Zur Bestätigung lächelte ich ihn an und verlor mich erneut in einem liebevollen Kuss. Die Zeit in der wir umschlungen unter freiem Himmel standen, schien nur für uns beide geschaffen zu sein. Wir verbrachten ohnehin viel zu wenig miteinander, also kostete ich jede Sekunde mit ihm voll und ganz aus. Die Sonne verschwand in einem letzten Aufblitzen hinter dem Horizont und die knorrigen, grünlosen Bäume wurden zum letzten Mahnmal für die anbrechende Nacht.
„Lass uns nach Hause gehen Sully“ flüsterte ich meinem Liebsten ins Ohr und umklammerte fordernd seinen Arm.
„Hey“ brach es überrascht aus ihm heraus „sieh mal einer an, du kannst ja meinen Namen aussprechen.“ Unter breitem Grinsen entblößte er seine weißen Zähne und schenkte mir dieses unwiderstehliche Lächeln „na wenn das so ist, dann werde ich dich nach Hause begleiten.“ Vorsichtig nahm er mich bei der Hand und entführte sie zu sich in seine Jackentasche. Wortlos schlenderte mit mir durch die leblosen Gassen. Er war ein hoffnungsloser Romantiker, aber genau wegen dieser Art liebte ich ihn so sehr. Meinen heißgeliebten Träumer. Er brachte mich genau bis vor die Haustüre und wartete ab bis ich sicher hinter ihr angekommen war. Ab hier trennten sich unsere Wege und ich blickte ihm lange wehmütig vom Fenster meines Zimmers aus hinterher. Ich lehnte mich weit hinaus und verfolgte den schwarzen Punkt der nach und nach mit der wachsenden Dunkelheit verschmolz, bis ich mir sicher war ihn nicht mehr sehen zu können. Die ersten Sterne blitzten am Firmament auf und der eisige Geruch von Kälte lag in der Luft. Es würde nicht mehr lange dauern. Bald schon würde ich wieder die Gefangene meiner Erinnerung sein und manisch die Minuten zählen. Zitternd. Wankend. Innerlich zerstört. Bis hin zu jener Sekunde an dem der markerschütternde Schrei meiner Mutter die Stille der Einöde zerriss. Der Film würde schon bald von vorne beginnen.
Die Wochen waren schleichend vergangen und wie befürchtet prallte der erste Schneestern direkt auf meine Stirn, vereiste mein Herz und ich fühlte mich als säße ich in einem Kühlschrank, viel zu erfroren um mich zu bewegen, doch viel zu warm um trotzdem zu sterben. Zwischen Zusammenbrechen und Ohnmacht zählte ich immer wieder die Minuten, erinnerte mich an die Stunden die meinen Geist zäh umwoben und war geknebelt von dem Schrei der immer wieder hartnäckig in meinem Geist aufflammte und mir den Ernst der Lage bewusst machte. Der Schrei meiner Vergangenheit. Ein Ruf der mich immer wieder pünktlich, auf die Sekunde genau ereilte und meine kleine, heile Welt in Scherben legte. Warum hatte eigentlich nur Mama damals geschrieen? Warum quälte sich nicht auch aus meinem kleinen Körper wenigstens ein verlorenes Wimmern heraus, als ich ihn da so liegen sah, das kleine Geschenkchen fest umklammernd? Warum nur konnte mein Geist einfach nicht aufhören zu glauben, er würde eines Tages doch noch vor der Türe stehen, wo gerade dieser Gedanke die Absurdität auslachte. Und wieso glaubte ich noch immer er würde sich danach sehnen mich zu umarmen? Mein Papa? Mein Papa! Wo war die Zeit nur geblieben?