Die dunkle Val'kyre


  • Kapitel 1 – „eine neue Mission“


    Es war ein Tag, ganz nach Samiras Geschmack. Die Luft roch nach Eisen und Staub und die strahlende Sonne erinnerte sie an ihre Heimat. Obwohl sie schon lange in Noxus lebte, hatte sie die Wüstenlandschaft von Shurima nie vergessen. Manchmal vermisste sie den Sand in ihren Schuhen und die fein gewebten, bunten Tuniken der Bürger. Und natürlich ihre Familie.


    Ihre Eltern waren Straßenkünstler. Ganz Shurima war von ihren athletischen Sprüngen und eleganten Tänzen beeindruckt gewesen - doch als Banditen ihre Stadt überfielen, wurden sie zur Flucht in eine von Noxus besetzte Stadt gezwungen.


    Die Erinnerung schmerzte und nicht selten war sie der Stargast ihrer Alpträume. Samira hatte sich auf dem Dachboden versteckt. Sie hatte zugesehen, wie die Angreifer den Namen eines uralten Magus riefen und ihn auf die Dorfbewohner losließen. All das Grauen, das sie über ihre Freunde brachten... Sie war vor Angst wie gelähmt.


    Ein solches Gefühl hatte sie noch nie verspürt, nicht einmal bei ihren gewagtesten Kunststücken. In diesem Moment hasste sie sich selbst - warum tat sie nichts? - und schwor, dass sie sich nie wieder so ängstlich und hilflos fühlen würde.


    Noxus bot ihr die Chance, ihren Mut auf dem Schlachtfeld wieder zu finden. Voller Eifer stürzte sie sich in die Schlacht, ungeachtet dessen, was sie erwarten würde. Nie wieder würde sie tatenlos zusehen, wie andere für sie kämpften! Und das sprach sich rum. Nun war sie als die Wüstenrose bekannt, als Draufgängerin. Als furchtlose Kämpferin des noxianischen Regimes.


    Und dennoch... die Vergangenheit kann man nicht ungeschehen machen.


    Sie trat auf die Hauptstraße, ein Säckchen voll Gold in der gebräunten Hand. Das war ihr Lohn für das Meucheln eines Chemtechbarons, der dem Imperium schaden wollte. Ihr Schwert hatte kurzen Prozess mit ihm gemacht. Ein Schuss aus ihrer Pistole bekundete seinen endgültigen Tod. Ein Kinderspiel. Und sicher, der Auftrag war gut bezahlt worden – allerdings langweilig.


    Ein Attentat wie aus dem Bilderbuch – keine Überraschungen, keine Gegenwehr. Nicht ein einziger Mensch kam überhaupt auf den Gedanken, sie zu töten! Und diese nichtsnutzigen Söldner, die man ihr zur Unterstützung zugeteilt hatte, wären auch noch fast dabei draufgegangen. Sehr enttäuschend! Sie hoffte wirklich, dass der nächste Auftrag etwas mehr zu bieten hatte.


    Lässig schlenderte sie durch die beengten Straßen von Noxus, eine Münze vor sich hin schnippend, und sah sich aufmerksam um.


    Irgendwo hier musste das Haus sein…


    Nicht zum ersten Mal verfluchte Samira die noxianische Architektur, auch wenn die Bauwerke durchaus imposant waren. Ständig verlief sie sich, weil irgendwie alles gleich aussah. Die massiven Steinmauern der unzähligen, gigantischen, geradlinig anmutenden Gebäude waren schmucklos, öde und mit Zinnen versehen. Diese Zinnen dienten als Schießscharten im Falle eines Angriffs. Auch wenn es ein Witz war. Kein Reich der Welt würde freiwillig einen Krieg mit dem noxianischen Imperium anzetteln!


    Das karge, trostlose Land, auf dem nur wenige Pflanzen wuchsen, war der Grund, weshalb die Noxianer sich mit Waffengewalt alles holten, was sie zum Überleben brauchten. Das hatte sie zu einem starken, wenn auch nicht besonders diplomatischen Volk gemacht. Der wüstenartige, sandig-erdige Boden und die kahlen Felsen, die tiefen Schluchten… nicht gerade das beste Gebiet, um zu überleben. Dennoch war hier das Zentrum der Macht, die unsterbliche Bastion errichtet wurden. Und welche Schrecken in den Mauern dieses alles überragenden Gebäudes versiegelt waren, wussten nur einige Auserwählte…


    Während Samira so darüber nachdachte, rempelte sie jemand an. Sie fuhr herum und wunderte sich gar nicht, dass derjenige sie in seiner metallernen Rüstung gar nicht bemerkt hatte. Wie man sich in diesem Fummel bewegen konnte, war ihr schleierhaft. Die Rüstungen der noxianischen Elitekrieger waren aus einem speziellen Metall, das in den Eisenstachelbergen im nördlichen Freljord geschürft wurde. Ein äußerst robustes Erz, das genauso schwer zu bearbeiten, wie zu zerstören war. Kommandantin Indari hatte ihr einmal vorgeschlagen, eine solche Rüstung anzuprobieren, doch Samira konnte sich darin kaum bewegen, obwohl sie nicht gerade schwach war.


    Allerdings gab es auch viele Kämpfer, die darin dennoch wahre Meisterleistungen auf dem Schlachtfeld erbracht hatten.


    Noxus hatte schon viele Kriege begonnen. Das Königreich von Demacia, die magischen Reiche von Ionia, Shurima, selbst in das kalte Freljord hatte das Imperium seine Grenzen ausgeweitet. Und viele Niederlagen einstecken müssen. Schade, dass Samira nicht dabei war! Gegen die sagenumwobene ein-Mann-Armee aus Ionia hätte sie nur zu gern gekämpft!


    Noxus war einfach anders als die anderen Reiche Runeterras. Für diejenigen jenseits seiner Grenzen ist Noxus brutal, expansionistisch und bedrohlich, doch diejenigen, die hinter sein kriegerisches Äußeres blicken, sehen eine ungewöhnlich integrative Gesellschaft, in der die Stärken und Talente seiner Bevölkerung respektiert und kultiviert werden. Loyalität, Stärke, Talent - ganz gleich in welcher Form, wenn man dem Imperium diente, war einem Respekt in Noxus sicher. Es war vollkommen egal, woher man kam, welchen Hintergrund man hatte, oder welche Religion man praktizierte. Selbst als Außenstehende aus Shurima hatte sie in Noxus schnell Fuß gefasst.


    Noch immer hatte sie kein Anzeichen von Kommandantin Indari gesehen. Die Kommandantin war vielleicht die Einzige, die sie wirklich verstand. Obwohl Samira eine wahnsinnig gute Kämpferin war, fehlte es ihr an Disziplin. Sie hielt sich nicht an Befehle und eine der schweren Rüstungen der Soldaten trug sie auch nicht.


    Ihre Kleidung bestand nur aus Leder und war enganliegend und kurz. In ihr langes dunkles Haar war goldener Schmuck eingeflochten, dessen Muster sich auch an ihren Handgelenken wieder fand. Ihre dunklen Arme waren mit Tätowierungen übersäht, die sie sich nach ihren Aufträgen stechen ließ. Aber zumindest lag sie bei der Farbwahl ihrer Kleidung nicht daneben. Wie bei den meisten Noxianern, war sie in schwarz, grau und rot gehalten - den Farben des Imperiums, die Stärke, Macht und Entschlossenheit symbolisieren sollten. Außerdem bedeckte eine schwarze Augenklappe eines ihrer Augen. Sie hatte es auf einer Mission verloren, weil sie die Befehle ihrer Kommandantin missachtete. Doch sie vermisste es kaum. Vielleicht wollte sie sich nur nicht mehr an den Überfall in Rokrund erinnern.


    Dennoch waren die noxianischen Soldaten von ihr begeistert. Samiras Athletik und Geschicklichkeit spiegelte sich in ihrer Treffsicherheit wider, sodass sie zu einer ausgezeichneten Kämpferin wurde. Meistens benutzte sie im Kampf ihre beiden Pistolen, doch wenn sich die Gelegenheit ergab, zog sie auch das Schwert, das sie auf ihrem Rücken trug. Viele Noxianer sahen in Samiras Kampfstil eher eine Show. Sie kämpfte mit Stil und wand sich stehts tanzesgleich durch ihre Gegner. Dass diese dabei meistens ihr Leben verloren, gehörte einfach dazu. Sie hatte eine der höchsten Trefferquoten in ganz Noxus.


    Trotzdem hätten die meisten Kommandanten des Imperiums Samira längst aus dem Dienst entlassen. Nur Indari, eine ehemalige Saboteurin, hatte ihre Furchtlosigkeit zu schätzen gelernt und sie in ihre eigene Truppe aufgenommen. Alles lief gut. Obwohl Samira sich blindlinks in den Kampf stürzte, hatten sie nie Schwierigkeiten – im Gegenteil. Sie erfüllten jeden Auftrag schneller und effizienter als jede andere Einheit.


    Wenn da nicht der Vorfall in Rokrund gewesen wäre…


    Sie kamen in einen Hinterhalt und Indaris Beine wurden zerschmettert, als das Gebäude über ihnen zusammenstürzte. Samira war hineingerannt, um Indari hinauszutragen, obwohl die Kommandantin ihr befohlen hatte, sich in Sicherheit zu bringen. Dabei verlor sie ihr Auge.


    Der Gedanke daran schmerzte. Für einen noxianischen Soldaten war der Tod besser, als verkrüppelt zurückzukehren. Die Kriegsveteranen, die nicht mehr für sich selbst sorgen konnten, hatten es schwer. Viele wurden zwar dennoch hoch angesehen – schließlich hatten sie dem Imperium einen großen Dienst erwiesen – doch für sie gab es nun nichts mehr. Es gab keinen Sinn mehr in ihrem Leben. So war es auch bei Kommandantin Indari.


    Die Kommandantin war seither an den Rollstuhl gefesselt. Jene, die sie kannten, salutierten noch immer vor ihr. Doch dies heiterte Indari keineswegs auf. Sie wollte Noxus den Rücken kehren und ein neues Leben anfangen. Samira erwischte sie gerade, als sie in das Schiff nach Zhaun steigen wollte. Es brauchte ihre gesamte Überzeugungskunst, um Indari zum Bleiben zu überreden. Die Kommandantin blieb. Und sorgte nun für Samiras Aufträge.


    Wenn sie sie nur endlich finden würde!


    Das blutrote Banner war der einzige Farbklecks in der Landschaft. Stein, Staub und Metall, einfach und grobschlächtig verarbeitet, fanden sich überall wieder und sorgten für ein tristes Gesamtbild. Samira kletterte auf ein Tor, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Es war ihr ziemlich egal, dass alle sie dafür anstarren würden. Jemanden nach dem Weg zu fragen, war ohnehin nicht ihr Stil.


    Mit einem eleganten Satz landete sie auf der Treppe eines kleinen, unscheinbaren Häuschens. Hier musste es sein – Kommandantin Indari hatte ein Zeichen an der Tür gemacht. Als sie eintrat, hörte sie die kleine Glocke, die über der Tür hing und ihre Ankunft ankündigte.



    Es war ein winziges Gasthaus und die wenigen Holztische waren gut gefüllt. Die Leute riefen und lachten durcheinander und einige umgekippte Bierkrüge zierten den Boden. Samira stieg über eine Schnapsleiche hinweg zum Tresen.


    „Was kann ich dir bringen?“, fragte der Wirt. Als Antwort zog Samira den Brief hervor, mit dem Kommandantin Indari sie herzitiert hatte. Die grauen Augen des Wirts blieben an dem Siegel neben Indaris Unterschrift hängen. Er nickte nur und deutete auf eine Tür, links von ihm:„Sie wartet im Hinterzimmer.“ Samira dankte ihm und trat ein.


    Die Kommandantin saß an einem rustikalen Tisch mit ein paar Brandflecken und winkte sie eilig zu sich heran.


    „Wie lief deine letzte Mission?“, Förmliche Begrüßungen hielt die Kommandantin für unwichtig.


    Ihre Stimme klang gebieterisch und hatte einen starken noxianischen Dialekt. Ihr dunkles Haar war schulterlang und von einigen grauen Strähnen durchzogen. Das schmale, olivenfarbene Gesicht war von einer tiefen Furche durchzogen, die sich von ihrem rechten Mundwinkel bis hoch zu ihrer Wange zog. Obwohl sie keine Soldatin mehr war, trug sie eine schwere Rüstung in den Farben von Noxus, die mit Nieten und Schnallen verziert war.


    Ihr alter Helm, der dem Kopf eines Raubvogels nachempfunden war, lag vor ihr auf dem Tisch. Alte Gewohnheiten konnte man wohl nur schwer ablegen.


    Ihre dunklen Augen blickten sie prüfend an. Doch das störte Samira nicht. Sie ließ sich auf einen mit rotem Samt bezogenen Stuhl fallen und legte die Füße auf den Tisch: „Ziemlich langweilig. Hast du was Neues für mich?“


    „Allerdings.“, Indari zog ein zusammengerolltes, leicht gelbliches Blatt mit dem Wappen von Noxus aus einer Tasche ihres Rollstuhls. Es war von einem bekannten General unterzeichnet worden und Samiras Augen weiteten sich. Doch ihre ungestüme Freude verwandelte sich schnell in Enttäuschung, als sie sich den Auftrag durchlas. „…eine Eskorte?“, sie versuchte nicht einmal den Unmut in ihrer Stimme zu verbergen.


    „So ist es. Ein Trupp soll neue Schürfgebiete in den Eisenstachelbergen erkunden, da die Vorräte der Schürferfeste sich dem Ende neigen. Es ist ein umkämpftes Gebiet –“, die Kommandantin gestattete sich ein Lächeln, „Also keine Sorge. Du wirst schon zu deinem Spaß kommen.“


    Die Schürferfeste war eine Bergfestung in noxianischer Hand. Sie lag in Freljord, etwas nordwestlich von hier. Dort wurde das Erz zum Schmieden der noxianischen Waffen gefördert. Und sicher, es gab wohl die Winterklauen, einen freljordischen Stamm, der sich immer wieder mit den Noxianern anlegte, aber diese würden niemals so weit nach Süden vordringen, um eine hochbewaffnete Festung anzugreifen.


    Samira wirkte immer noch nicht überzeugt. „Das kann bestimmt jemand anderes erledigen, sagte sie stirnrunzelnd, „Komm schon – gibt es keinen aufregenderen Job?“



    Kommandantin Indari ließ sich mit ihrer Antwort Zeit und justierte ihren hölzernen Rollstuhl neu, indem sie ein paar Schrauben anzog. Sie seufzte erleichtert: „Viel besser.“


    „Hey!“, sagte Samira, um auf sich aufmerksam zu machen.


    Indari seufzte: „Sam… der Auftrag verspricht gutes Geld.“


    „Du verheimlichst mir doch was…“, Samira stützte sich auf den Tisch und blickte die Kommandantin eindringlich an.


    Sie schwieg. Das gefiel Samira gar nicht. Irgendwas war an diesem Auftrag faul.


    „…sag schon.“


    „Na schön. Die letzten Auftraggeber waren von deinen Alleingängen nicht besonders angetan. Du hast ihre eigenen Leute bei deinen waghalsigen Aktionen in Gefahr gebracht und das hat sich rumgesprochen. Unter ihnen waren einige hochrangige Personen. Das -“, sie schlug mit der Hand auf das Pergament, „Ist der einzige Auftrag, den ich im Moment für dich an Land ziehen konnte.“


    Samira biss sich auf die Lippe, während ihr Blick zu dem Papier schweifte. Wenn das stimmte, hatte sie ein Problem. Sie war auf die Aufträge angewiesen und auch wenn sie als Einzelgängerin bekannt war, gab es nur wenige Missionen, die für nur eine Person bestimmt waren.


    Kommandantin Indari wartete auf ihre Antwort.


    Sie rollte neben sie und klopfte ihr auf den Rücken: „Bestimmt werden sich die Wogen wieder glätten, aber bis dahin solltest du dich etwas im Hintergrund halten.“


    Samira verdrehte angewidert die Augen und schnappte sich das Blatt: „Schön. Wir sprechen uns wieder, wenn ich meinen Auftraggeber vor rauflustigen Elnüks beschützt habe.“ Sie versuchte gar nicht erst, ihren Unmut zu verbergen.


    Als sie aus der Tür hinaustrat, blieb ihr Blick an den Bierkrügen auf dem Tresen der Bar hängen. Wenn sie schon einmal hier war…


    Sie schnappte sich ein Bier und warf dem Wirt eine Münze hin. Ihre Augen schweiften über die Tische. An einem ging es besonders laut her. Ein paar Soldaten versuchten gegeneinander im Armdrücken zu gewinnen. Also wirklich – mit der Technik wird das nie was!


    „Lass mich mal.“, sagte sie und schob den letzten Herausforderer beiseite. Ihr Gegner schnaubte durch seine großen Nasenlöcher, verschränkte die Arme vor der Brust und lachte schallend: „Ein kleines Mädchen will sich mit mir messen?“ Samira grinste: „Die Getränke gehen auf den Verlierer.“ - „Hah! Nimm den Mund bloß nicht so voll!“, sagte er und streckte die Hand aus. Samira ergriff sie – und drückte sie ohne Probleme zu Boden. Sein fassungsloser Blick ließ sie noch breiter grinsen – „DIE GETRÄNKE GEHEN AUF IHN!“


    Es wurde ein sehr langer Abend …



    Früh am Morgen trat der Rest des Begleittrupps pünktlich zum Appell an. Der Leiter dieser Expedition, eine mürrische Frau mit harten Gesichtszügen namens Alba, deren sandsteinfarbenes Haar bereits einem müden Grau Platz machte, musterte ihre Schützlinge mit prüfendem Blick: „Sollten es nicht sechs Kampfeinheiten sein?“


    Plötzlich landete mit einem eleganten Sprung Samira neben ihr. Obwohl sie von einem der höchsten Gebäude in der Umgebung heruntergesprungen war, gähnte sie. Es war nun mal einfacher, über die Gebäude zu springen, statt sich in den engen Gassen zu verlaufen. Besonders, wenn man verkatert war.


    „Ah…“, machte Alba und sah sie missbilligend an, „Kommandantin Indari hat mir schon von dir erzählt… Samira, die Wüstenrose.“


    Samira stellte sich schulterzuckend zu den anderen und musterte sie, während Alba die Namensliste vorlas.


    Es waren noch fünf noxianische Soldaten, vier Männer und eine Frau. Einer war von Kopf bis Fuß in eine gewaltige Stahlrüstung gekleidet und trug eine ebenso gewaltige Axt bei sich. Erst als Kommandantin Alba diese Person als Rosie die Donnernde vorstellte, wurde ihr klar, dass sie ebenfalls eine Frau war.


    Rosie fing Samiras Blick auf und schwenkte herausfordernd ihre Axt. Samira grinste – ein kleines Trainingsgefecht konnte bestimmt nicht schaden – doch Kommandantin Alba machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie räusperte sich vernehmlich und zog Rosies Aufmerksamkeit erneut auf sich.


    Samira verdrehte die Augen und hörte nur mit einem halben Ohr hin. Das meiste hatte Kommandantin Indari bereits erzählt, doch Alba hatte die Ausstrahlung einer strengen Lehrerin und baute sich vor Samira auf: „Wiederhole, was ich gerade gesagt habe.“, verlangte sie.


    „Was soll das bringen? Unsere Mission ist es, den Trupp zu begleiten und vor sämtlichen Gefahren zu beschützen. Oder nicht?“, sagte sie.


    Die imposante Größe von Kommandantin Alba schien auf sie kaum Eindruck zu machen, obwohl die Kommandantin bestimmt zwei Köpfe größer als sie selbst war und ihr so nahestand, dass sie den Fleischgeruch in ihrem Atem wahrnahm.


    Alba sagte mit ihrer knurrenden Stimme: „Ich hoffe, dass du im Kampf aufmerksamer bist.“


    Dann wandte sie sich wieder zum Rest der Truppe: „Wir werden über den Fluss in die kleine Stadt Drugne reisen. Sie ist recht isoliert und liegt südöstlich unseres Ziels. Dort füllen wir unsere Vorräte auf und treffen uns mit dem Expeditionstrupp und einigen Arbeitern, die uns bis zur Schürferfeste begleiten. Wir können bis zum Randgebiet der Dalamor-Ebene auf dem Fluss reisen. Von dort aus geht es weiter in Richtung Nordost, über die Berge zur Feste, wo wir weitere Informationen zur derzeitigen Lage erhalten werden. Wenn das erledigt ist, durchkämmen wir mit dem Expeditionstrupp die Berge in Richtung Naljaäg, in der Hoffnung neue Erzvorkommen zu erschließen. Wir beschützen sie vor allem, was ihnen gefährlich werden kann. Wir könnten auf Grellfeen, Barbaren, Bären, Wölfe, oder auf Mitglieder der Winterklaue treffen. Sollte das der Fall sein, habt ihr den Befehl, sie umgehend zu töten. Keine Alleingänge.“, bei diesen Worten ruhte ihr Blick auf Samira, bevor sie sich wieder dem Rest der Truppe zuwandte: „Noch Fragen?“


    Allgemeines Schweigen.


    „Dann los!“, Alba führte die kleine Truppe zu einem – für noxianische Verhältnisse bescheidenen – Flussschiff. Wobei man es in Noxus eher als Truppenschiff bezeichnen konnte.


    Es war massiv aus Eisen geschmiedet und wirkte fast wie aus einem Guss. Anders als die großen Kriegsschiffe, war dieses hier etwas flacher gehalten und hatte weniger Abwehranlagen. Trotzdem waren auf jeder Seite drei Kanonen platziert - eine typisch noxianische Vorsichtsmaßnahme - und an Deck konnte Samira eine Harpune erkennen. Ein Mann mit dichtem Bart stand dahinter und unterhielt sich mit einem Kadetten. Das musste wohl der Kapitän sein.


    Alba stieß einen schrillen Pfiff aus, um auf sich aufmerksam zu machen.


    Sobald der Kapitän sie erblickte, bedeutete er den Matrosen, sie auf das Schiff zu lassen. Der spitz zulaufende Bug wurde wie eine Art Rampe heruntergefahren, sodass sie Einsteigen konnten. Der Kapitän stand mitsamt seiner Mannschaft in Reih und Glied vor ihnen und salutierte.


    „Kommandantin.“, der Kapitän nickte Alba schroff zu.


    „Wir können ablegen, Käptain Rogan.“


    Sobald das kleine Schiff dann voll beladen war, wurde das gewaltige, blutrote Segel aufgerollt und die Ruder in das Wasser getaucht, um die Reise über den Fluss zu beginnen. Samira warf einen letzten Blick auf die Stadt, die hohen Mauern, die vielen Gebäude, die rasch kleiner wurden und betete, dass dieser Auftrag etwas Interessantes für sie bieten würde.


    Sie sollte nicht enttäuscht werden...


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    “Jeder normale Mensch ist wohl von Zeit zu Zeit versucht, in die Hände zu spucken, die schwarze Flagge zu hissen und anzufangen, Kehlen aufzuschlitzen...“

    (Lucanus 39-65n.Chr.):cat:

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  • Kapitel 2 – „Reise nach Drugne“



    Nachdem das Schiff sich in Bewegung gesetzt hatte, winkte Alba Samira erneut zu sich. Noch eine Standpauke?


    Die Kommandantin verschränkte die Arme: „Ich werde ein besonderes Augenmerk auf dich legen.“


    War ja klar…


    „Wie aufmerksam von Ihnen, Kommandantin.“, Samira verdrehte die Augen, „Machen Sie sich Sorgen, dass ich ihnen den Rang ablaufe?“


    Albas sah verachtend auf sie hinab: „Ich werde nicht zulassen, dass jemand wie du die Unternehmung durch waghalsige Aktionen gefährdet. Habe ich mich klar ausgedrückt?“


    Samira ließ das kalt. „Was wissen Sie schon von mir.“, sagte sie genervt und schulterte ihren Seesack.


    „Mehr als du denkst. Indari hat dir vielleicht vergeben, Ich jedoch nicht.“


    Samira blieb stehen: „Was haben Sie mit Kommandantin Indari zu tun?“


    „Wir waren Kameradinnen.“, sagte Alba. Ihre knurrende Stimme klang nun seltsam hohl und ihr Gesicht nahm einen merkwürdig-verletzten Ausdruck an, der gar nicht zu der eisernen Soldatin zu passen schien.


    Samira schwieg. Deswegen also…


    Sie schloss die Augen, als die Erinnerung an den Tag, an dem sie ihr Auge verlor, sie wie ein Schlag traf.


    Sie konnte das Donnern der Explosion noch immer hören, den Staub und das Blut riechen, als sie kopfüber ins Chaos stürzte. Ihr Körper war taub vor Adrenalin, als sie Indari in ihren Armen hielt und spürte, wie ihre Welt zerbrach. Sie hätte bei ihrer Truppe bleiben sollen. Wäre sie nur bei Indari geblieben... Als ihr Blick auf Indaris leere Beine fiel, wusste sie, dass sie Indaris Leben zerstören würde, wenn sie sie rettete. Noxus hatte keine Verwendung für verkrüppelte Soldaten. Sie wurden zwar als Kriegsveteranen gefeiert, doch was nütze das, wenn man nicht mehr gebraucht wurde?


    "Lass mich zurück.", befahl die Kommandantin. Doch Samira konnte nicht anders. Kommandantin Indari war wie eine Mutter für sie!


    Als sie nach Noxus zurückkehrten, wurde ihre Einheit aufgelöst und Indari in den Veteranenruhestand versetzt. Ohne Indaris Schutz und Unterstützung wäre sie verloren gewesen, das wusste Samira. Darum kehrte sie zunächst in ihre Heimat nach Shurima zurück.


    Sie hatte alles verloren, was sie hatte – bis auf den Nervenkitzel und die Gefahr, die sie am Leben hielt.


    In ihrer Heimat angekommen, hatte sie gespürt, dass sie nicht mehr dazugehörte. Sie war nicht mehr dieselbe Person wie vorher. Sie hatte eine Schwäche, eine Narbe, die sie daran erinnerte, dass sie versagt hatte. Sie konnte dieses langweilige, einfache Leben nicht mehr ertragen. Und vor allem hatte sie wieder dieses Gefühl der Angst und Schwäche verspürt, ein Gefühl, das sie doch ohnehin aus ihrem Leben verbannen wollte! Sie musste zurück nach Noxus. Um jeden Preis. Der Kampf war ihr Leben.


    Und als sie Indari traf, wusste sie, dass sie endlich wieder zu Hause war. Ihre ehemalige Kommandantin verstand sie auf eine Art und Weise, die niemand sonst verstehen konnte. Samira war bereit, jedes Risiko einzugehen, um wieder in den Krieg zu ziehen. Die lukrativen Söldneraufträge waren nur ein Bonus. Auch wenn Indari ihr keinerlei Feldunterstützung gewährte, war Samira zufrieden – zumindest bis jetzt.


    Die Aufträge wurden mittlerweile an Truppen mit vielen Kriegern verteilt, seit der schwarze Nebel aufgetaucht war. Sollte jemand von dieser dunklen Macht besessen sein, so lautete der Befehl, diese Person unverzüglich unschädlich zu machen. Doch das war nicht leicht. Samira hatte selbst erlebt, wie Darius, die Hand von Noxus, ein großer General und der regimetreuste Soldat den sie je getroffen hatte, vom schwarzen Nebel kontrolliert wurde. Er war nicht mehr er selbst und versuchte seine eigenen Kameraden abzuschlachten. Sie hatte gegen ihn gekämpft, bis sich der Nebel aus irgendeinem Grund verzogen hatte. Eine solche Macht hatte sie noch nie erlebt.


    Als Kind hatte sie immer Geschichten vom schwarzen Nebel gehört. Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter sie auf den Schoß nahm, ihr durchs Haar strich und mit sanfter Stimme zu erzählen begann:


    "Es heißt, dort wo heute die Schatteninseln liegen, war einst ein blühender Ort des Wissens, der Magie und des Wohlstands. Die Menschen lebten geschützt durch den weißen Nebel, der die Inseln vor unerwünschten Besuchern verbarg, isoliert vom Rest der Welt. Dieser Ort war als die gesegneten Inseln bekannt und in ihrem Zentrum lag die Stadt Helia.


    Zur selben Zeit kam ein junger König in ihrem Nachbarland Camavor an die Macht. Doch statt angemessen zu regieren, widmete er sein gesamtes Leben der Frau die er liebte. Seine Königin Isolde war alles für ihn. Er machte ihr viele Geschenke und tat alles, was sie verlangte. Königin Isolde selbst war nur eine einfache Näherin ohne adelige Abstammung und sie setzte sich sehr für das einfache Volk ein. Viele liebten sie, den König miteingeschlossen. So machte er sich jedoch viele Feinde und war blind für die Gefahr, in die er sich begab. Attentäter wurden geschickt und der vergiftete Dolch, der für ihn bestimmt war, verfehlte sein eigentliches Ziel und traf seine geliebte Königin.


    Er tat alles, was möglich war, um ein Heilmittel zu finden. Sämtliche Schätze des Königreiches verkaufte er, nur um die Heiler und Scharlatane zu bezahlen, in der Hoffnung ein Gegengift zu finden. Doch es war zu spät. Als sie starb, schloss er sich tagelang mit ihr ein, dem Wahnsinn nahe. Er wollte ihren Tod nicht wahrhaben und richtete jeden hin, der ihn von der Wahrheit zu überzeugen versuchte.


    Eines Tages hörte er von den gesegneten Inseln und den allheilenden Wassern, die dort verborgen seien. Mit seiner großen Armee fiel er brutal in das Land ein, streckte alle nieder, die ihm im Weg standen, und verschaffte sich schließlich gewaltsam Zutritt zum inneren Heiligtum, wo er seine Frau in das gesegnete Wasser tauchte. Er wollte sie wiederhaben und nahm dafür jegliche Zerstörung in Kauf. Der Preis, den er dafür bezahlen musste, spielte keine Rolle.


    Und für einen kurzen Augenblick lang kehrte sie auch zu ihm zurück.


    Sie erhob sich als schrecklicher Geist aus Finsternis und Zorn, und in ihrem Schmerz, ihrer Verwirrung und ihrer Wut darüber, dass man sie aus ihrem Totenschlaf gerissen hatte, rammte sie dem König seine eigene verzauberte Klinge mitten durchs Herz. Die Magie des Wassers und des uralten Schwertes stießen aufeinander und ließen die Energie der Kammer explodieren. Sie fegte über die Insel und verwandelte alle Lebewesen in gequälte Untote, die sich ihrer Lage schmerzlich bewusst waren. Der heilige weiße Nebel wurde schwarz und die reinigende Magie wurde zu einer finsteren Macht, die nach der Energie und den Seelen der Lebenden giert."


    Bis zu jenem Tag, hatte Samira das nur für ein Ammenmärchen gehalten.


    Erst als sie gegen Darius kämpfen musste, wurde ihr klar, dass es wahr ist. Er schien sie nicht einmal mehr erkannt zu haben. Wenn selbst so gewissenhafte Soldaten einfach so kontrolliert werden konnten – welche Chance hatten dann Söldner wie sie? Kein Wunder also, dass die Noxianer keine Alleingänge mehr duldeten. Es war wichtig, seine Kameraden töten zu können, wenn die Verluste zu groß würden. Aber war es das wert? Sie stellte sich Kommandantin Indari vom Nebel besessen vor, wahnsinnig darauf sie zu töten. Könnte sie ihre Lehrmeisterin umbringen?


    Sie riss sich aus ihren Gedanken und wandte sich um, damit sie Alba eine Antwort ins Gesicht schmettern konnte – doch diese war bereits verschwunden.


    Sie biss sich auf die Lippe, blickte sich um und versuchte die Lage an Bord zu analysieren. Der Rest ihrer Truppe war bereits in den dunklen Korridoren des Schiffsbauchs verschwunden, nur die Crew des Schiffes arbeitete vor sich hin. Die Luft war schwer, roch metallisch und salzig und die anderen Matrosen wirkten angespannt. Sie wechselten nervöse Blicke. Hatten sie noch nie Söldner transportiert? Das war möglich, wenn auch unwahrscheinlich. Noxus hatte viele Truppenschiffe, selbst welche, die für Flüsse gedacht waren. Warum sollten sie ein Handelsschiff dafür verwenden? Es sei denn… „…sie wollen keine Aufmerksamkeit erregen…“, flüsterte Samira.


    Das ergab Sinn. Das Erz aus den Eisenstachelbergen war eine wichtige Ressource für Noxus. Die meisten Rüstungen der Elitesoldaten wurden daraus geschmiedet und waren widerstandsfähiger als alles andere. Aber wovor waren sie auf der Hut? Niemand der noch bei Sinnen war, würde den Zorn des noxianischen Oberkommandos auf sich ziehen wollen.


    Ihr Gedankengang wurde von einem lauten Geräusch unterbrochen. „Also echt Flint! Kannst du nicht mal aufpassen?“


    Samira entdeckte einen jungen Matrosen mit einem Mondgesicht und jeder Menge Sommersprossen. Sein Gesicht nahm dieselbe Farbe an, wie sein feuerrotes Haar. Er lag auf dem Boden, um ihn herum einige Kisten, deren Inhalt auf dem Boden verstreut war. „Ver-verzeihung!“


    Unbeholfen und mit zitternden Händen sortierte er die Gegenstände wieder ein. Als er jedoch Samira erblickte, die in der Tür lehnte, ließ er die Flasche, die er gerade in der Hand hielt, fallen. Sie platzte auf und eine klebrige und stinkende Flüssigkeit ergoss sich über den Stahlboden. „Oh nein!“


    Einer seiner Kameraden stöhnte auf und ein anderer meinte abschätzig: „Hey, vielleicht sollten wir ihn in Watte packen und in seiner Schlafkabine liegen lassen. Dann macht er uns weniger Probleme.“


    Ihr Lachen wurde unterbrochen, als der Kapitän neben Samira auftauchte. Er war ein respekteinflößender Mann mit bereits ergrauten Haaren, stahlblauen Augen und wettergegerbten Gesicht. Er schaute grimmig zu den Matrosen und Samira beschloss, dass es besser sei zu gehen, bevor die Luft vor Anspannung explodierte.


    Sie kannte sich bereits mit dem Aufbau der meisten noxianischen Schiffe aus und fand sofort den Gang, der zu den Schlafkabinen führte. Sie waren für jeweils zwei Personen ausgelegt, das bedeutete, dass sie sich ihre wohl mit irgendjemandem teilen musste. Aber das war ihr egal. Sie schmiss ihren Seesack in eine Ecke und legte sich auf eines der Betten, die in der Wand verschraubt waren und ließ den Blick durch den Raum schweifen.


    Die Kabine war eng und stickig, aber Samira war es gewohnt, auf engstem Raum zu leben. Es war Teil des Söldnerlebens. Sie hatte ihre Sachen bereits auf dem schmalen Bett ausgebreitet und sich auf eine grob gewebte Decke gesetzt, als Rosie hereinkam.


    „Hallo Mitbewohnerin!“, trällerte sie und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.


    Samira konnte nicht umhin, zu grinsen. Rosie hatte eine wahnsinnig positive Ausstrahlung und die Energie, die sie umgab, war belebend.


    Die Soldatin war beeindruckend groß, mit einer Statur, die sie über alle anderen auf dem Schiff erheben ließ. Sie hatte den Helm endlich abgenommen und legte die Rüstung ab. Ihr rotes Haar fiel in einem geflochtenen Zopf über ihre Schulter und umrahmte ihr ovales Gesicht. Sie hatte eine schmale Stupsnase und ihre blauen Perlenaugen waren warm und freundlich. Samira konnte jedoch nicht umhin, zu bemerken, dass Rosie ein eher männliches Kinn hatte und ihre Stimme tiefer war als erwartet. Auch die stark definierten Muskeln ließen sie eher wie eine Bodybuilderin, als eine Soldatin erscheinen.


    Rosie zog ihre Tasche von der Schulter und legte sie behutsam auf das raue Bett. Samira beobachtete sie dabei, wie sie die Tasche öffnete und einen Schleifstein, ein paar Ersatzklingen und Schmierfett für ihre Stiefel auspackte. Sie schien gut vorbereitet zu sein.


    Es war eine seltsame Stille zwischen ihnen, fast so, als ob sie sich gegenseitig einschüchterten. Schließlich drehte sich Samira auf den Bauch und fragte Rosie geradeheraus: „Sag schon. Wieso bist du hier?“


    „Hm?“, machte Rosie überrascht. Dann ließ sie ein lautes Lachen ertönen: „Na aus demselben Grund wie du!“


    Samira legte den Kopf schief. „Was soll das denn heißen?“


    Oh“, wich Rosie aus, „Ich habe ganz vergessen, die Kommandantin zu fragen, wann wir wieder an Land sind!“ Sie entschuldigte sich und eilte davon. Seltsam...


    Samira drehte sich wieder auf den Rücken und blieb noch eine Weile wach und dachte über ihre neue Mitstreiterin nach. Trotz ihrer kraftvollen Erscheinung und ihrer Tätigkeit als Söldnerin wirkte Rosie auf Samira ungemein liebenswert und warmherzig. Jemand wie sie hatte nicht den Schneid, um irgendwen umzubringen. Und ihre Reaktion vorhin war auch seltsam gewesen. Sie verbarg etwas und das ließ Samira vorsichtig werden. Nur was? Egal. Es war ohnehin besser, ihr erstmal aus dem Weg zu gehen.


    Die nächsten Tage an Bord des Flussschiffs verbrachte Samira größtenteils damit, ihre Waffen und Ausrüstung zu überprüfen und ihre Kampftechniken zu perfektionieren. Sie vermied es, Rosie zu nahe zu kommen und gab sich Mühe, sich nicht allzu abweisend zu zeigen, wenn sie sich doch einmal über den Weg liefen. Schließlich hatte Kommandantin Indari ihr eingebläut, sich mit ihrer Truppe gut zu stellen. Die anderen Mitglieder ihrer Söldnertruppe hatte sie jedoch kaum zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich sparten sie ihre Kräfte, bis sie gebraucht wurden.


    Samira war froh, wenn sie endlich das Flussschiff verlassen konnte. Auf dem Schiff wurde sie jedes Mal von Kommandantin Alba abgemahnt, wenn sie etwas Spaß hatte. Egal, ob sie auf der Reling einen Handstand vollführte oder die Matrosen durch einen Sprung von Deck in Angst und Schrecken versetzte, nur um am Bug wieder hinaufzuklettern. Außerdem sehnte sie sich nach frischer Luft und neuen Abenteuern.


    Die Zeit verging quälend langsam und endlich, nach drei Tagen, erreichten sie die Stadt Drugne.


    Samira war gerade von Board gegangen und sah sich neugierig um.


    Drugne war eine kleine Stadt, inmitten der Steppe. Der überschaubare Hafen grenzte an einen breiten Stadtplatz, der auf kargen Boden gebaut worden, und von wenigen kleinen Geschäften umgeben war. Die Häuser waren gedrungen und aus Lehm gebaut, um den aufkommenden Winden zu widerstehen und breite, staubige Straßen verbanden die Stadt mit der Außenwelt. In der Mitte des Platzes war eine verwitterte Anschlagtafel aufgestellt, an der jede Menge Steckbriefe klebten. Ein paar wenige Händler hatten ihre Waren auf Planwagen ausgelegt und begrüßten die Neuankömmlinge mit einem mürrischen Kopfnicken und ein vertrocknetes Grasbüschel rollte vom Wind getrieben umher.


    „Auf jedem Friedhof herrscht mehr Stimmung.“, murmelte Samira, woraufhin sie ein lautes, polterndes Lachen vernahm. Rosie war unbemerkt an ihre Seite getreten. Sie trug wieder ihre Axt auf dem Rücken und hatte wieder ihre schwere Rüstung angezogen. Erstaunlich, dass sie sich trotzdem so leise bewegen konnte.


    Kommandantin Alba trat nun vor: „Besorgt euch das Nötigste. Heute Abend treffen wir uns am Gasthaus 'Zur heulenden Schlucht' um alles weitere zu besprechen und eine Nacht zu schlafen. Morgen früh“, sie deutete bei diesen Worten in die Ferne, wo man bereits die schemenhaften Umrisse der freljordischen Gebirgskette erkennen konnte, „Ziehen wir weiter nach Freljord. Wenn wir gut vorankommen, sind wir in zwei Tagen bei der Schürferfeste. Wegtreten!“


    Die freie Zeit kam Samira sehr gelegen. Sie hatte keine Lust den ganzen Tag bei ihrer Truppe zu kleben, als wäre sie ein Kleinkind in einem Kindergarten. Die Stadt sah zwar nicht besonders einladend aus, aber was soll’s.


    Doch Rosie hatte wohl andere Pläne. „Wo wollen wir als erstes hin? Ich war ewig nicht mehr shoppen!“


    „Shoppen ist wohl übertrieben...“, sagte eine andere Stimme. Samira sah sich nach dem Sprecher um und erkannte eine junge Frau mit kurzen stacheligen blauen Haaren und seltsamen rötlich-braunen Augen. Sie hatte eine gelangweilt klingende Stimme und hielt ein paar fies aussehende Kunai in der Hand, mit denen sie herumspielte. Diese Waffen hatte Samira nur ein einziges Mal gesehen, bei einem Auftrag in Ionia. Das machte sie stutzig.


    Die andere Frau schien ihren Blick zu bemerken: „Was? Nimmst du nie ein paar Souvenirs mit, wenn du deine Aufträge erfüllst?“


    „Ich steche mir lieber Tattoos.“, erwiderte Samira und deutete auf eines auf ihrem Arm. Das schien der Soldatin zu gefallen. Ihre dünnen Lippen verbogen sich zu einem Lächeln: „Schätze, wir kennen uns noch nicht. Ich heiße Spinell. Schön, die große Wüstenrose kennenzulernen. Stimmt es, dass du in Drekan mit nur einem Schwerthieb einen Basilisken getötet hast?“


    „Es waren zwei.“


    „Beeindruckend.“


    Spinell klang zwar begeistert, aber vielleicht war es ihr stechender Blick, oder ihre doch leicht hochnäsige Art, die Samira Unbehagen bereitete.


    „Kommt ihr beiden!“, rief Rosie. Sie war bereits vor gegangen und wedelte mit der Hand.


    Sie sahen einander an, seufzten zeitgleich und folgten Rosie in ein kleines Geschäft.


    Kaum, dass sie den Laden betreten hatten, stutzten sie. Spinell sah sich kurz um und schüttelte den Kopf: „Sorry, aber ich bin raus.“, sie klopfte Samira auf die Schulter, „Viel Spaß mit Rosie.“


    Dann verschwand sie. Samira konnte es ihr nicht verübeln. Rosie hatte sie in ein Spielzeugwarengeschäft gelockt.


    „Was wollen wir hier? Sag bloß, du brauchst noch ein Kuscheltier zum Schlafen.“, sagte Samira und hob abschätzig eine grob gemachte Puppe mit zwei Fingern an ihren Fadenlocken hoch.


    „Hast du keines?“, sagte Rosie überrascht, während sie vor einem Regal mit pinken Stoffhasen stand.


    „Ich finde sie kindisch.“, erwiderte Samira. Doch der eigentliche Grund war ein anderer. Bei dem Angriff auf ihre Heimat hatten sie überstürzt fliehen müssen. Samira hatte all ihre Spielsachen dort gelassen und für etwas Neues hatte das Geld gefehlt. Während sie die kleine Stoffpuppe betrachtete, kam ihr zum ersten Mal in den Sinn, dass der Angriff sie nicht nur ihrer Heimat, sondern auch ihrer Kindheit beraubt hatte. Sie ließ die kleine Puppe fallen, als wäre sie eine Klapperschlange und wandte schnell den Blick ab.


    „Nicht so der Puppentyp, was?“, lachte Rosie.


    „Ich sagte doch, ich brauche sowas nicht. Keine Soldatin braucht sowas.“, sagte Samira genervt und verfluchte sich innerlich, weil sie gerade sehr wie Kommandantin Alba geklungen hatte.


    Rosie wurde rot und in diesem Moment glich sie einem gewissen Matrosen aufs Haar. Das weckte Samiras Neugier: „Sag mal, bist du mit diesem einen Matrosen verwandt? Flint oder so?“


    „Ja! Woher weißt du das?“, Rosie hatte ein Plüschtier von einem der Regale in die Hand genommen und hielt es sich schnell so vor das Gesicht, dass Samira die Röte nicht mehr erkennen konnte.


    Irritiert auf den Stoffhasen starrend, schüttelte Samira den Kopf und erklärte: „Naja ihr seht euch ziemlich ähnlich. Ist er dein Bruder oder so?“


    „Mein Cousin. Er ist der Grund, wieso ich hier bin.“, sagte Rosie und wedelte dabei so mit dem Hasen herum, dass es aussah, als würde Samira mit dem Hasen sprechen, statt mit ihr.


    „Kannst du das lassen?“, fragte Samira genervt und deutete auf das Plüschtier.


    „Entschuldige.“, kicherte Rosie und legte den Hasen weg, „Ich habe wohl zu viel mit den Kindern gespielt. Da wird man das nicht so schnell los.“


    „Kinder?“ Was in aller Welt...?


    „Ja! Die Kleinen sind so goldig. Weißt du, ich habe vorher im Waisenhaus gearbeitet. Aber als Flint mir erzählte, dass er sich für diese Reise gemeldet hat, konnte ich nicht anders, als ihn zu begleiten. Ich habe gehört, dass es in letzter Zeit vermehrt Angriffe auf Flussschiffe gegeben hat.“


    „Also bist du gar keine Soldatin?“, hakte Samira fassungslos nach.


    „Nnnnein.", gab Rosie zu und legte den rosa Plüschhasen wieder auf das Regal. Man sah ihr an, dass sie sich schämte. „Ich... Flint ist die einzige Familie, die ich noch habe. Als ich hörte, dass er auch noch einen Haufen Söldner und Soldaten transportieren würde, dachte ich, dass es vielleicht zu gefährlich für ihn sei, euch herzubringen... also... hab ich mich als Söldnerin ausgegeben, um ihn zu beschützen."


    Samira schüttelte den Kopf. Das kann doch nicht wahr sein...


    Andererseits konnte sie Rosie auch irgendwie verstehen. Würden sich ihre Eltern in Gefahr begeben, würde Samira ihnen auch folgen, egal was auf sie lauert.


    „...verpfeifst du mich jetzt?“, fragte Rosie traurig.


    Samira sah Rosie in die blauen Augen. Die große Frau schien den Tränen nahe. Sie seufzte: „Nein."


    „Oh DANNNKE!"


    Plötzlich wurde Samira so fest umarmt, dass ihr für einen Augenblick die Luft wegblieb, und hochgehoben. Auch wenn sie keine Soldatin war, so war Rosie beeindruckend stark. Vielleicht ist sie doch noch nützlich für die Mission.


    Rosie setzte Samira wieder auf den Boden ab und strahlte, „Ich werde mein Bestes geben, versprochen!“


    „Wo hast du die Rüstung und die Axt eigentlich her?“, fragte Samira und brachte ihre Kleider wieder in Ordnung.


    „Oh! Die stammt von meinem Vater. Er... war Soldat. Kam bei einem Einsatz in Basilich ums Leben.“, sagte Rosie mit belegter Stimme.


    „Verstehe...“, sagte Samira. Sie wandte sich wieder den Stoffpuppen zu, „Weißt du was? Ich glaube, ich nehm die hier.“

    “Jeder normale Mensch ist wohl von Zeit zu Zeit versucht, in die Hände zu spucken, die schwarze Flagge zu hissen und anzufangen, Kehlen aufzuschlitzen...“

    (Lucanus 39-65n.Chr.):cat: