Ich habe 1,5 Jahre in Japan gelebt, ein Jahr davon als Austauschstudent an der Universität Tokio, ein halbes Jahr als Praktikant in Yokohama.
Für mich war das eine sehr prägende Zeit, in der ich erstmals komplett auf mich allein gestellt in einer mir fremden Gesellschaft und Kultur war. Zudem war der Schritt von Darmstadt zur Weltstadt Tokio ein sehr großer. Ich war am Anfang sehr fasziniert, von dem, was Tokio einem bietet an Unterhaltung oder auch versorgungstechnisch. Heißhunger um 3 Uhr nachts? Kein Problem, ab zum nächsten Convenience Store, der 5 Minuten zu Fuß erreichbar ist.
Ausgehen kann man in Tokio selbstverständlich, egal ob in ein Izakaya in Form eines gemütlichen Ess- und Trinkabends oder in einen Club in Shibuya oder Roppongi. Als Anime-Fan ist Akihabara natürlich ein Traum. Wenn man Japanisch kann, hab man unendlichen Zugang zu Mangas. 6€ für einen Manga in Deutschland? Da lacht man als Japaner drüber. Für läppische 100 Yen bekommt man in Buchläden gebrauchte Mangas in sehr gutem Zustand, umgerechnet 80 Cent.
Und Japan? Japan ist wunderschön. Egal ob kulturelle Highlights in Kyoto und Nara, Wald- und Seenlandschaften in Tohoku, eine Besteigung des legendären Mt. Fuji, Strandurlaub auf Okinawa oder Ski-Urlaub auf Hokkaido: Japan hat alles und mehr, als man sich vorstellen kann.
Und jetzt die eigentliche Frage: Würde ich gerne in Japan leben? Komische Frage, wenn man bedenkt, dass ich schon längere Zeit dort gelebt habe. Wieso ich sie stelle? Weil die Antwort darauf vor und nach meinem Aufenthalt unterschiedlicher nicht sein kann.
Vor 4 Jahren konnte ich es kaum abwarten, mein Abenteuer in Japan zu starten. Heute würde ich nicht mehr in Japan leben wollen. Obwohl ich in Japan die Zeit meines Lebens hatte, möchte ich nicht mehr zurück. Das hat mehrere Gründe. Ein wesentlicher Grund liegt in dem Bild, das ich mir von der japanischen Gesellschaft machen durfte. Eine Gesellschaft, in der jeder zu funktionieren hat, und zwar bei 120%. In der Arbeitstage von 8 Uhr morgens bis 22 Uhr abends nicht ungewöhnlich sind. In der Freundlichkeit überall zu sehen ist, aber in den seltensten Fällen von Herzen kommt, sondern lediglich gespielt ist. Letztlich ist es auch eine Gesellschaft, die mit Ausländern nicht umzugehen weiß. Sowohl bei der Arbeit als auch im öffentlichen Leben gibt es dieses Problem.
Ein Beispiel:
Ich hatte mich mal an der Ferse sehr böse entzündet, weil diese sich an meinen Lederschuhen zu sehr aufgerieben hatten. Eines Abends waren die Schmerzen irgendwann so schlimm, dass ich ein Krankenhaus aufgesucht habe. Telefonische Auskunft konnte mir aber irgendwie niemand geben. Ich fuhr also einfach nach Shinjuku und fragte dort am Bahnhof. Aber niemand wollte oder konnte mir weiterhelfen. Kann das so schwer sein? Ein Krankenhaus muss doch irgendwie irgendwo sein und offen haben. Irgendwann fand ich also ein Staatliches Krankenhaus. An der Rezeption sagte mir ein älterer Herr, dass ich warten müsse, alle Ärzte seien beschäftigt, aber er würde zu mir kommen, sobald einer Zeit hat. Nach einer Stunde kam der Mann zu mir und sagte, dass das leider heute nichts mehr werde. Ich war natürlich total aufgelöst, hatte zuvor 2 Stunden lang ein Krankenhaus gesucht und wurde nach einer weiteren Stunde mit starken Schmerzen unbehandelt heimgeschickt. Das alleine finde ich schon nicht korrekt, in Deutschland ist es nie vorgekommen, dass ich verletzt von einem Krankenhaus abgewiesen wurde. Im schlimmsten Fall habe ich eben lange warten müssen, aber behandelt wurde ich in Notfällen immer. Aber die Krone kam dann noch. Ich fragte dann im Krankenhaus einen Arzt, den ich zufällig gesehen habe, wieso ich denn nicht behandelt werde. Er meinte nur zu mir, dass von vornherein keine Patienten aufgenommen würden. Da dämmerte es mir, dass der Rezeptionist von Anfang an mich abweisen wollte, aber sinnlos Zeit verstrichen lies, um den Anschein zu wecken, dass sie sich um mich bemühen und einen Arzt suchen.
Das ist etwas, was mir oft passiert ist. Selbst wenn sofort klar ist, dass man nicht aufgenommen wird, dass ein Aritkel nicht vorhanden ist, dass etwas nicht in Ordnung ist, sagen einem viele Japaner nie direkt, dass es nicht geht. Es wird immer um den heißen Brei herumgeredet, statt zur Sache zu kommen. Kritik gibt es in dieser Gesellschaft nie von unten nach oben. Hierarchie steht über allem. Eine japanische Freundin erzählte mir von ihrer Junior-High-School Zeit. Darüber, dass die "1st year students" am morgen am Schuleingang Spalier stehen mussten, um ihre älteren Mitschülerinnen zu begrüßen.
Das ist jetzt alles etwas lang geworden und wahrscheinlich auch nicht sonderlich interessant für viele. Es sind lediglich meine Eindrücke gewesen. Japan ist für mich Licht und Schatten zugleich. Auf der einen Seite ein Land, das Reich an allem und mehr ist, auf der andere Seite eine Gesellschaft, mit der ich nicht warm werden konnte. Ich empfehle aber jedem, sich selbst ein Bild zu machen. Ich kenne viele Leute, die sich in Japan verliebt haben und dort nun leben und mit sich und der Welt überglücklich sind. Bei mir spielen zudem viele viele weitere Gründe hinein, wieso mein Bild von Japan so ist wie es ist.