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Zuhause bei Großvater
Der Heimweg dauerte eine Weile, war doch die Strömung hin und wieder so stark, dass der kleine Oktopus immer wieder zurückgeworfen wurde. Aber die fixe Idee, die er sich fest vorgenommen hatte, gab ihm immer wieder einen enormen Schub nach vorne. Trotz der mittlerweile eingesetzten Finsternis fand er den Weg ohne sich zu verirren, kannte er diese Untiefen doch seit seiner Geburt wie kein anderer. Endlich war er an Großvaters und seinem Unterschlupf angekommen. Dieser bestand aus einer alten großen Seemannstruhe, eine von Menschenhand hergestellte und aus robustem Eichenholz bestehende große Kiste, welche über die Zeiten hinweg mit Muscheln und Algen und kleinen Korallen bewachsen war. In der linken Seite klaffte ein kleines etwa faustgroßes Loch, welches einst durch den Aufprall am Meeresgrund verursacht wurde, als die Truhe vor vielen Jahren von Bord ging. Dieses Loch hatte die perfekte Größe für Oktopoden. Ohne größere Mühen konnten sich der Junge und sein Großvater schlüpfrig ein und aus bewegen, wo andere Meeresbewohner ihre Probleme hätten oder gar nicht hindurch kämen. Einmal schwamm ein neugieriger Kugelfisch durch die Öffnung und als Großvater mit energischem Tonfall raunte: „Wer wagt es da mein Heim zu stören!“, erschrak der arme, blähte sich auf und steckte wie ein Korken fest im Loch. Es dauerte mehrere Stunden, bis der aufgewühlte Kugelfisch sich wieder beruhigte, seine Anspannung löste und hastig von dannen schwamm.
„Großvater, ich bin wieder da!“, rief der kleine Oktopus freudig, während er die kleine Öffnung durchquerte.
„Großvater?“
Tief im hinteren Teil der Truhe verbarg sich ein großer dunkler Schatten, der sich leicht - wie der Blasebalg eines Schmieds - auf und ab senkte.
„Großvater, bist du wach?“, fragte der Junge. Langsam begann sich der große dunkle Schatten zu bewegen und vier alte, aber immer noch kräftige Arme - zwei zu seiner Linken, zwei zu seiner Rechten - streckten sich ihm entgegen. Die großen Saugnäpfe der alten Arme, die dem kleinen Oktopus so vertraut waren, saugten sich an den hölzernen Wänden fest und mit einem schlurfenden Geräusch zog sich der Großvater langsam voran. Er hatte die Farbe von alten Weintrauben.
„Ah, da bist du ja mein Junge. Hast du wieder die sieben Weltmeere unsicher gemacht oder bist in die tiefsten Tiefen hinab getaucht?“ Großvaters riesige Augen, die im Laufe seines Lebens trüb und grau wurden, besaßen noch immer etwas Warmes, Fürsorgliches. Direkt vor seinem Enkel kam der große alte Oktopus zum liegen und auch wenn er sich nur sehr langsam voran bewegte, wirbelte sein Halt eine große Menge Sand und Schlamm auf, die das Innere der Seemannstruhe in einen milchigen Schleier tränkte.
„Ich war an der Oberfläche und habe mir die Wolken und den Himmel betrachtet, Großvater.“, antwortete der Junge. Der kleine gelbe Wirbelwind schwamm voller Enthusiasmus um den großen alten Oktopus herum und der milchige Schleier begann sich langsam zu lichten, so wie die Strahlen der Sonne einen Nebel Stück für Stück auflösen.
„Da waren unzählige Wolken, Großvater! Da waren ganz viele kleine an einem Fleck, die wie ein Schwarm aus Heringen glänzten, und eine Wolke so groß wie ein Thunfisch. Da war selbst eine längliche Wolke, die wie eine finstere Muräne wirkte.“, plapperte der Kleine aufgeregt wie ein Wasserfall. Dabei begann sein Körper in den unterschiedlichsten Farben zu blinken. Sein Gelb wurde zu einem kräftigen Orange, das kräftige Orange zu einem feurigen Rot, das feurige Rot zu einem leuchtenden Grün und vom leuchtenden Grün wieder hin zum Gelb.
„Das klingt aber aufregend mein Junge! Hast du auch zwei Wolken entdeckt, die wie zwei Oktopoden aussehen?“, fragte der Großvater mit ruhiger Stimme. Der kleine Oktopus wurde daraufhin langsamer in seinen Bewegungen und ließ sich sachte auf den Boden der Truhe sinken.
„Nein, ich habe den Himmel sehr lange beobachtet, aber Mama und Papa konnte ich nirgendwo finden.“ Für einen kurzen Moment wurde es still um den kleinen gelben Oktopus. Sein Leuchten begann zu flackern, wie die Flamme einer Kerze im Windhauch.
„Aber ich werde sie noch finden! Sie schweben bestimmt viel höher, als die anderen Wolken und genau deshalb konnte ich sie von der Oberfläche aus nur nicht sehen.“ Seine Stimme klang hoffnungsvoll.
„Ja, das glaube ich dir. Du wirst sie eines Tages mit Sicherheit hoch oben am Firmament sehen.“ Großvater schloss seine Augen und nickte dem Jungen zustimmend entgegen.
„Ja, und ich weiß auch schon wie!“ Der Kleine strahlte seinen Großvater an.
„Und wie?“, fragte dieser.
„Ich erlerne das Fliegen! Dann werde ich sie ganz schnell gefunden haben und fragen, wann sie zu uns zurückkehren werden!“ Bei diesen Worten funkelten die Augen des kleinen Oktopus wie zwei Perlen, rein und silbrig-weiß.
„Oha!“, sagte der Großvater mit einer staunenden Verwunderung. - „Und wie willst du das bewerkstelligen?“, fragte er anschließend.
„Das… weiß ich noch nicht genau, aber ich werde bestimmt einen Weg finden. Mir fällt schon was ein. Schließlich bin ich doch ein schlaues Kerlchen, nicht Großvater?“, grinste der Kleine seinen Großvater an. Der Großvater begann laut zu lachen und man könnte meinen, der Farbton seiner an alte Weintrauben erinnernden Haut würde für einen kurzen Augenblick hell aufleuchten.
„Ja, das bist du - keine Frage! Vielleicht bist du sogar schlauer als dieser alte Oktopus hier! Du erfreust meine drei Herzen immer wieder aufs Neue, mein Kleiner! Aber es ist schon spät und du solltest dich schlafen legen.“ Mit diesen Worten blähte sich der alte Oktopus auf, saugte sich voll mit salzigem Meerwasser, presste dieses mit einem Male wieder heraus und gab sich so einen beachtlichen Schub, das er wieder im hinteren Teil der großen Truhe landete, sich umdrehte und im Schatten verschwand.
„Gute Nacht, Großvater!“, gähnte der kleine Oktopus, drehte sich noch einige Male umher und kugelte sich anschließend zusammen. Er fiel in einen tiefen Schlaf.