Das Verlernen einer Sprache in der Schrift ist nun wirklich nichts unwichtiges.
Sprache (und damit auch Schrift) sind allerdings nicht statisch, sondern hoch lebendig, wie du sicherlich weißt. Versuche, sie einzufrieren, versagen am Alltagsgebrauch - die Alltagssprache wandelt sich, die semantischen Strukturen ebenso, wenn auch langsamer. Ich empfinde die Alltagssprache in dieser Hinsicht nicht als defizitär. Die Schrift ist Sklavin der Alltagssprache, nicht umgekehrt. Aber ich denke, das ist gar nicht das Thema.
Orthographie und Interpunktion sind - meiner Meinung nach, in diesem Thread - ästhetische Kategorien, die weniger mit einer Wort-Welt-Relation oder sprachlichen Möglichkeit zusammenhängen. Tatsächlich sind es sogar politische Kategorien, denn sie stehen mit Bildung, soziokultureller Herkunft und Vermögen in Verbindung. Ich finde, dass Orthographie und Interpunktion keine Distinktionsmerkmale sein sollten. Habitus auf Basis von Kategorien, die nicht allen Menschen gleich zugänglich sind, finde ich generell schwierig. Mangelnde Bildung ist ein Problem - wer offensichtlich nicht aus "Faulheit", sondern aufgrund eigener Möglichkeiten Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung hat, sollte nicht angefeindet werden, wozu auch? Die Person wird dadurch nicht besser schreiben.
Bildung ist ein Kapital. Es ist okay und gut, es zu nutzen und zu genießen, aber als Repressionsapparat ist es scheußlich. Insbesondere im Sichtbaren (Schrift) fällt es leicht, Diskriminierungskategorien zu stabilisieren. Darum gibt es, zum Glück, wenigstens Wahlzettel in leichter Sprache, aber wirf mal einen Blick in unsere Prozessordnung, dann weißt du, wie sich Herrschaftswissen stabilisiert.