Tarifeinheit bei Gewerkschaften? Eure Meinung

  • Vielleicht habt ihr es in den Nachrichten mitbekommen: Aufgrund der immer wieder vorkommenden Streiks kleiner Spartengewerkschaften (derzeit der Vereinigung Cockpit bei den Piloten und der Gewerkschaft der Lokführer bei der Bahn) plant die Bundesregierung ein Gesetz, das für Tarifeinheit sorgen soll, weil sie die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland für gefährdet hält. Dann würde nur noch der Tarifvertrag der Gewerkschaft gelten, der die Mehrheit der Angestellten eines Betriebs angehören. Allerdings wurde die Tarifeinheit in Deutschland erst vor vier Jahren durch ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts aufgehoben und Ex-Verfassungsrichter Di Fabio hält ein Tarifeinheitsgesetz für verfassungswidrig. Deshalb scheint es schon fast vorprogrammiert, dass jemand gegen ein solches Gesetz, sollte es denn beschlossen werden, klagen wird und das Bundesverfassungsgericht dieses dann nach ein paar Jahren wieder aufheben könnte.


    Meine Fragen an euch sind nun: Was haltet ihr von dem Vorstoß der Bundesregierung in Bezug auf Tarifeinheit? Was ist allgemein eure Meinung zum Thema Streiks? Mich würden gerade auch Meinungen von denjenigen unter euch interessieren, die selbst in Betrieben mit oder ohne (mehrere) Gewerkschaften arbeiten, aber auch von allen anderen. :)



    Ich finde den Vorstoß der Bundesregierung ziemlich unsinnig, weil das Tarifmonopol ja erst 2010 "kassiert" wurde und es mir ziemlich sinnlos erscheint, es nach dem recht eindeutigen Urteil des Bundesarbeitsgerichts wieder einführen zu wollen. Außerdem habe ich allgemein was gegen Monopole oder das Beschneiden von Wahlmöglichkeiten.
    Bei Streiks muss ich sagen, dass ich dafür in der Regel wenig Verständnis habe, aber einsehe, dass es manchmal die einzige Möglichkeit ist, eine Anpassung der Löhne an die Inflation zu erreichen. Es ist ja praktisch die einzige Möglichkeit für Arbeitnehmer, Druck auf die Arbeitgeberseite auszuüben, wenn diese keine Lohnerhöhungen zugestehen will. Trotzdem ärgert es mich, wenn wegen eines Streiks z.B. kein Zug fährt und ich deswegen nicht von A nach B komme - warum, ist mir dabei ziemlich egal.

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    Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray. Chapter 13.

  • Welch unerwartetes und erfreuliches Thema, da teile ich gerne meine Meinung zu mit, auch in der Hoffnung, dass solche Themen hier reger diskutiert werden.


    Generell ist das Thema Tarif-Lohn ein komplexes Thema, ich beführworte Gewerkschaften und auch Tarif-Löhne, oft auch das letzte Mittel um in eingen Branchen einen gerechteren Lohn bezahlt zu bekommen. Auf der anderen Seite missfällt mir allerdings auch immer der Gedanke, dass ich ein Gehalt ohne direkte Einflussnahme durch meine Eigenleistung erhalte. In meiner Branche gibt es keine Tarife, wir haben eigentlich nicht mal eine Gewerkschaft. Es gibt wohl hier und da welche, aber eine Gewerkschaft braucht eine starke Arbeitnehmerbasis, sonst hat sie keine Handhabe gegen die Arbeitgeber. Jedenfalls fahre ich bisher sehr gut damit, dass es in meiner Branche keinen Tariflohn gibt, so kann man bei regelmäßigen Gehaltsverhandlungen seinen Wert aushandeln und "schleppt" keine "underperformer" mit. So etwas funktioniert jedoch mit Sicherheit nicht in jeder Branche.


    Aber damit wollte ich nur mal kurz meinen Standpunkt zum Thema Tarif-Lohn und Gewerkschaften niederschreiben. Nun kommt ich zu deiner ( @Libertine ) eigentlich Frage.


    Das von der aktuellen Bundesregierung eingebrachte Tarifeinheitsgesetz wird ja groß als Stärkung der Arbeitnehmer-Fraktion beworben, da viele kleine Gewerkschaften gegen wenige große getauscht werden (sollen). Ich sehe in dem Vorhaben jedoch genau das Gegenteil, nämlich eine Stärkung der Arbeitgeber-Fraktion und weniger möglicher Wiederstand der Gewerkschaften sowie eine Eingrenzung des Streikrechts.


    Viele der momentanen großen Gewerkschaften verzeichnen einen immensen Mitgliederschwund, alleine ver.di hat seit 2001 knapp 25% Ihrer Mitglieder verloren (Ebenso die DGB). Grund ist bestimmt auch die von vielen als mangelhaft angesehene Meinungsvertretung durch eben diese. Je weniger Gewerkschaften es gibt, desto einfacher ist eine Infiltration und Einflussnahme durch die Arbeitgeber - und das ist mit Sicherheit keine Fiktion.


    Das Gewerkschaften keine Wirtschafts-Killer sind, beweisen unsere Nachbarn. Frankreich oder auch Dänemark haben ungemein starke Gewerkschaften, am Hungertuch nagt dort niemand deswegen. Stattdessen werden in den Ländern auch Krankenpfleger und kleine Berufe gut bezahlt.


    Ich hoffe das Gesetz wird (abermals) vor dem Bundesarbeitsgericht scheitern. Es ist unglaublich was die Politik seit knapp 15 Jahren gegen die Verfassung und gegen die Menschen arbeitet - die obersten Gerichte haben uns die letzten Jahre vor einigen unglaublichen Gesetzen bewahrt.


    Zeitgleich zu der momentanen Gesetzeinbringung streikt ja auch die GDL (knapp 20.000 Lokführer) und möchte auch die Verantwortung für die anderen (140.000 Bahn-Mitarbeiter) übernehmen, da, nach dem Gesetz, nur noch die EVG (bzw. DGB) als Gewerkschaft akzeptiert werden würde. So kämpfen jetzt sogar die Gewerkschaften (auf Arbeitnehmerseite) gegen einander. So sieht wohl kaum eine Stärkung der Arbeitnehmer aus.


    Die Vereinigung Cockpit (Flugpiloten-Verbund) streikt momentan ja auch, was eine heikle Angelegenheit ist. Der dortige Tarif ist schon eine sehr luxuriöse Ausführung und in der heutigen Zeit auch etwas Weltfremd - jeder muss oder musste Nachgeben. Das die das nicht wollen, kann ich jedoch auch verstehen. Da in Deutschland aber lieber darüber gemeckert wird, dass andere zuviel verdienen und nicht das man selbst zu wenig verdient, Stichwort Neid, wird da ein weiteres schlechtes Licht auf die Gewerkschaften geworfen.


    Sehr schwieriges Thema, wo ein Dialog sinnvoller ist als ein einziger Post, daher hoffe ich mal auf rege Teilnahme. Noch interessante Meinungen kann man sich beim NDR in der Redezeit anhören:
    http://www.ndr.de/info/sendung…haften,sendung267344.html

  • Die Vereinigung Cockpit (Flugpiloten-Verbund) streikt momentan ja auch, was eine heikle Angelegenheit ist. Der dortige Tarif ist schon eine sehr luxuriöse Ausführung und in der heutigen Zeit auch etwas Weltfremd - jeder muss oder musste Nachgeben. Das die das nicht wollen, kann ich jedoch auch verstehen.


    Zum Thema Cockpit möchte ich sagen, dass die Medien hier ganze Arbeit leisten. Vor ein paar Tagen kam ein Bericht auf RTL bei dem Äpfel mit Birnen verglichen wurden.
    So berichtete RTL, dass die Piloten ja 42 Tage Urlaub im Jahr haben, der normale Arbeiter in Deutschland aber nur etwa 30 Tage.
    Dass sich die 42 Tage bei Lufthansa auf eine 7 Tage Woche und die 30 Tage auf eine 5 Tage Woche beziehen wurde nicht erwähnt.
    Die Piloten bekommen also 6 Wochen Urlaub, genau wie der normale Arbeiter auch.


    Zudem geht es bei dem Tarifstreit ja um die Übergangsrente ab 55. Hier haben die Piloten seit jeher einen Teil ihres Gehalt eingezahlt damit sie ab 55 in Rente gehen können. Gerade das finde ich bei Piloten sogar sinnvoll. Wenn ich so manche Ü60er im Straßenverkehr sehe frage ich mich warum die noch einen Führerschein haben. Und Piloten haben eine weitaus größere Verantwortung für viele Menschenleben.
    Nun soll also diese Übergangsrente ersatzlos gestrichen werden. Stellt euch vor ihr habt 30 Jahre in ein Sparschwein eingezahlt und euer Arbeitgeber sagt nun: "Das Sparschwein wird gestrichen, alles was drin ist bekommen wir"
    Das fändet ihr sicherlich auch unschön. Wenn die Übergangsrente für neue Piloten abgeschafft würde könnte ich das noch nachvollziehen, aber nicht für die, die ihr Leben lang einbezahlt haben.


    Und zum Thema "Piloten verdienen so viel" sei auch gesagt, dass Piloten teilweise bis zu 150000 EUR vorstrecken müssen während ihrer Ausbildung. Wie kann man diesen Beruf dann mit z.B. einem Maurer vergleichen?


    Daher finde ich es sinnvoll, dass es Gewerkschaften gibt die die Interessen der Arbeitnehmer vertritt, denn sonst wäre es viel zu leicht für die Unternehmen über die Medien die eigenen Mitarbeiter schlecht aussehen zu lassen und den öffentlichen Druck zu erhöhen.

    Hey now, hey now, hear what I say now ~ Happiness is just around the corner ~ Hey now, hey now, hear what I say now ~ We'll be there for you


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  • Zum Thema Cockpit möchte ich sagen, dass die Medien hier ganze Arbeit leisten. Vor ein paar Tagen kam ein Bericht auf RTL bei dem Äpfel mit Birnen verglichen wurden.
    So berichtete RTL, dass die Piloten ja 42 Tage Urlaub im Jahr haben, der normale Arbeiter in Deutschland aber nur etwa 30 Tage.
    Dass sich die 42 Tage bei Lufthansa auf eine 7 Tage Woche und die 30 Tage auf eine 5 Tage Woche beziehen wurde nicht erwähnt.
    Die Piloten bekommen also 6 Wochen Urlaub, genau wie der normale Arbeiter auch.


    Verwundert mich bei dem wertlosen Unterschichten-Sender leider überhaupt nicht, dass dort Fakten verdreht werden und selbst die Redaktion zu blöd fürs Leben ist.


    Der typische Arbeitnehmer hat im Jahr 30 Tage Urlaub im Jahr, sofern er eine 5-Tage-Woche hat, heißt regulär von Montag bis Freitag zu arbeiten hat. Bei ganzer Werktagswoche, also von Montag bis Samstag, hat man 36 Tage Urlaub, umgerechnet die selben 6 Wochen Urlaub. Bei 42 Tagen wären dies dann, bei Berücksichtigung, dass Piloten 7 Tage in der Woche arbeiten können und daher auch 7 Tage pro Woche Urlaub nehmen müssen eben wieder die auch vorherigen 6 Wochen Urlaub im Jahr.


    Hast du also vollkommen Recht, keinerlei Luxus gegenüber anderen Tarifen.


    Zudem geht es bei dem Tarifstreit ja um die Übergangsrente ab 55. Hier haben die Piloten seit jeher einen Teil ihres Gehalt eingezahlt damit sie ab 55 in Rente gehen können. Gerade das finde ich bei Piloten sogar sinnvoll. Wenn ich so manche Ü60er im Straßenverkehr sehe frage ich mich warum die noch einen Führerschein haben. Und Piloten haben eine weitaus größere Verantwortung für viele Menschenleben.


    Nunja - Piloten müssen jährlich zu einem Gesundheitscheck, ob sie noch in der Lage sind ein Flugzeug zu fliegen. Daher würde ich es auch Piloten zutrauen, dass die mindestens noch bis 60 Jahren Ihren Job ausführen. Vor einigen Jahren gab es ja sogar Streiks als die Lufthansa die über dem Alter liegenden Piloten auf Zwang in die Rente schicken wollte.


    Ein normaler Arbeitnehmer empfängt seine Rente mit 67 Jahren, das sind 12 Jahre Unterschied, ein wenig Weltfremd ist das schon - aber auch nur weil die Rente von 62 auf 65 und dann auf 67 angehoben wurde. Bei 55 gegen 62 würde kein Hahn danach krähen.


    Das die Arbeitnehmer auf Ihren Anteil der geleisteten Sozialabgaben verzichten sollen, ist wirklich hart und wird kaum erwähnt. Genau das meine ich mit "Neid"-Debatte, lieber hat der andere weniger als ich selbst mehr. Abartig sowas!


    Hilfreich in der Debatte:
    http://www.noz.de/deutschland-…ur-einen-piloten-zu-wenig

  • Wie du, @tonguecat, denke ich, dass mit der Wiedereinführung der Tarifeinheit eine Schwächung der Arbeitnehmerseite verbunden wäre. Man nähme Beschäftigten dadurch die Möglichkeit, gegen einen aus ihrer Sicht schlechten Tarifkompromiss zwischen der (dann) einzigen Gewerkschaft und der Arbeitgeberseite noch irgendetwas unternehmen zu können. Die Arbeitnehmerseite hat sowieso immer einen strategischen Vorteil und kann z.B. damit drohen, dass höhere Löhne bei der jeweils aktuellen wirtschaftlichen Lage nur um den Preis von Entlassungen möglich wären o.Ä.


    Das Gewerkschaften keine Wirtschafts-Killer sind, beweisen unsere Nachbarn. Frankreich oder auch Dänemark haben ungemein starke Gewerkschaften, am Hungertuch nagt dort niemand deswegen. Stattdessen werden in den Ländern auch Krankenpfleger und kleine Berufe gut bezahlt.


    Den Vergleich mit anderen Ländern finde ich in der Regel nur bedingt sinnvoll, da diese in aller Regel ganz andere wirtschaftliche und demographische Voraussetzungen haben. In Dänemark scheint generell einiges anders als in Deutschland zu laufen, z.B. auch was die Kranken- und Pflegeversicherung und die Zügigkeit der Umsetzung großer Bauvorhaben betrifft; ob bzw. inwiefern irgendetwas davon auf Deutschland (das z.B. deutlich mehr Einwohner hat als Dänemark mit seinen ca. 5,6 Millionen) übertragbar wäre, ist die Frage. Was Frankreich angeht, finde ich gerade nicht, dass dem Land seine vielen Gewerkschaften und zahlreichen Streiks wirtschaftlich so besonders gut tun, aber das Land hat auch eine ganz andere Streik-Kultur - und eine hohe Jugendarbeitslosigkeit (wobei die z.T. auch historisch bedingt ist, wenn man an die vielen perspektivlosen arabischen Jugendlichen und jungen Männer aus den ehemaligen französischen Kolonien in den banlieues denkt). Für "Wirtschaftskiller" halte ich Gewerkschaften aber nun wirklich nicht.


    Ich hoffe das Gesetz wird (abermals) vor dem Bundesarbeitsgericht scheitern. Es ist unglaublich was die Politik seit knapp 15 Jahren gegen die Verfassung und gegen die Menschen arbeitet - die obersten Gerichte haben uns die letzten Jahre vor einigen unglaublichen Gesetzen bewahrt.


    In meinem Eingangspost habe ich ja schon angedeutet, dass ich im Grunde davon ausgehe, dass das Bundesverfassungsgericht ein Tarifeinheits-Gesetz, sollten CDU/CSU und SPD eines beschließen, ohnehin wieder kassieren würde. Ich finde es, ehrlich gesagt, einfach unmöglich, dass in den letzten Jahren so viele Gesetze beschlossen wurden, bei denen sich ein halbwegs logisch denkender Mensch schon vorher darüber im Klaren hätte sein müssen, dass sie nicht verfassungskonform sind. Meistens ging es um irgendwelche Überwachungsmaßnahmen, die nach einem Bedrohungsszenario hopplahopp durchgezogen wurden, statt sich vorher mal zu überlegen, ob die Befriedigung eines (ohnehin nie hundertprozentig zu erreichenden) Sicherheitsbedürfnisses den Ausverkauf von Freiheit, Demokratie und Grundrechten wert (bzw. aufgrund dieser überhaupt möglich) ist. Aber ich finde es auch generell ärgerlich, dass bei Gesetzgebungsverfahren mitunter so schlampig gearbeitet wird, dass die gerichtliche Aufhebung der Gesetze eigentlich nur noch eine Frage der Zeit ist.


    @Da loco: Während ich schon auch finde, dass Piloten bei bestandenem Gesundheitscheck auch regulär länger arbeiten sollten als bis 55, teile ich deine Meinung zu den Plänen, die Übergangsrente ersatzlos zu streichen. Müsste da nicht so etwas wie Vertrauensschutz gelten und die bisher eingezahlte Übergangsrente erhalten bleiben, auch wenn sie z.B. für neue Piloten abgeschafft wird oder ab einem bestimmten Stichjahr nicht mehr weiter eingezahlt werden kann?! Sollte die eingezahlte Übergangsrente wirklich "einfach so" von der Arbeitgeberseite eingezogen werden, hielte ich eine Klage dagegen aber für ziemlich aussichtsreich - wie gesagt, Vertrauensschutz.

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