Reprobate Romance!°•○●

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  • Reprobate Romance!

    Hallo Lieber Leser! Es freut mich das du dich hierher Verirrt hast! Und hoffe das dir meine Geschichte gefallen wird. Doch wie immer gibt es ein Vorwort und dieses möchte ich nun an euch loswerden , damit ihr euch sofort an die Geschichte setzen könnt.

    Reprobate Romance! Ist eines meiner Prosa; Wie es der Titel schon sagt geht es um eine Romance , in der viele Klischees vorkommen und ausgelebt werden. Es ist eine Prosa Welche sich schon länger in meinen Ordnern versteckt. Ich hatte es schon vor einiger Zeit angefangen , jedoch nach 14 Kapiteln abgebrochen , weil mir die Lust fehlte. Nun habe ich sie wieder entdeckt , und wieder Lust bekommen es zu ende zu führen!

    Ich möchte mich vorab bei meinen Treuen und Hilfsbereiten Beta-Lesern Bedanken; Skyla Darkheart und Gamesfan. Ich Danke euch wirklich , das ihr die Manuskripte durchgeht , und mir Verbesserungsvorschläge und Korrekturen gebt!

    Danke im voraus für alle Reads , Votes und Fans - und vorallem für die PN's , denn ich Liebe Feedback&Kritik. Ich werde mich bemühen , zu antworten! Wie meine anderen Geschichten habe ich vor jede Woche ein , oder zwei , Kapitel zu veröffentlichen.

    Und nun wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen!

    Eure Yukiko!~*~

    ~Kapitel 1: Eine Wette unter Mädchen!~

    Die meisten großartigen Geschichten beginnen spektakulär, an einem ganz besonderen Ort. Oder zumindest spannend.
    Meine begann an jenem Abend, als ich meine besten Freundinnen Gloria und Kennedy in unser Haus einlud, um mit ihnen einen richtig schönen Mädchenabend zu verbringen.
    Wie üblich ging es dabei sehr lustig zu. Kennedy sorgte für ausreichenden Proviant, Gloria war für die Filme zuständig, weil sie sich auf dem Gebiet der Filmklassiker am besten auskannte. Anscheinend war es mal wieder Zeit für einen Audrey-Hepburn-Marathon, welcher „Frühstück bei Tiffany“, „Sabrina“ und „My Fair Lady“ beinhaltete.
    Und ich leitete quasi die Beauty-Abteilung. Nagellack, Gesichtsmasken und Peelings.
    Unsere Clique als typische Mädchen-Clique zu bezeichnen, trifft den Nagel auf den Kopf.
    In unserer eher gewöhnlichen Schule kennt man uns auch unter dem Titel „die schönen Herzensbrecherinnen, denen niemand etwas abschlagen kann. Schon gar kein männliches Wesen.“
    Wobei Kennedy es im Gegensatz zu Gloria und mir tatsächlich darauf anlegt den Jungs reihenweise den Kopf zu verdrehen, wohingegen wir uns eher bedeckt hielten.
    Besonders ich übte mich in Zurückhaltung. Meinen Status als beliebtes It-Girl, ein gefragtes Mitglied der Gesellschaft hatte ich mir schließlich hart erarbeitet.
    Ich wollte ihn nicht dadurch verlieren, dass ich einen Stempel bekam, weil ich mich auf den falschen Jungen eingelassen hatte.
    Deshalb hielt ich mich lieber komplett von Jungs fern. Oder zumindest weitgehend. Es war auch nicht so, als käme ich mit ihnen überhaupt nicht klar, doch die Wahrheit war, dass ich wusste, dass ich mit keinem von ihnen befreundet sein konnte. Weil sie in mir nur das Mädchen mit dem hübschen Gesicht, der zierlichen Figur und dem Faible für modische Kleidung sahen.
    Dabei machte mich wesentlich mehr aus als das. Aber ich hatte mir diese Position schließlich selbst ausgesucht. Dass niemand mich oder meine schulischen Leistungen für ernst nahm, empfand ich als nebensächlich. Meine Eltern stimmte es zwar traurig, doch für mich war Status wichtiger als ein brillantes Genie zu sein. Mal abgesehen davon, dass ich ohnehin kein zweiter Einstein geworden wäre. Zwar war ich nicht unbedingt auf den Kopf gefallen, aber mehr steckte auch nicht dahinter.
    Wenn mich allerdings jemand fragte, hatte ich mein letztes Buch mit sieben gelesen und es trug den Titel „Märchensammlungen.“ Inzwischen war ich ein richtiger Profi darin mich vor aller Welt zu verstellen. Selbst Gloria und Kennedy glaubten all meine Facetten zu kennen.
    Aber hier geht es nicht darum, wie ich meine Persönlichkeit zurechtbog, um in der Gesellschaft der gefragten Kids zurechtzukommen. Sondern darum, wie ich mich auf ein gewagtes Spiel mit dem Feuer einließ. Einfach weil ich es nicht besser wusste.
    Weil ich abenteuerlustig, leichtsinnig und vielleicht auch etwas naiv war.


    Wir hatten gerade unsere Pizza Hawaii verdrückt und einen Film beendet, in dem eine junge Frau ihr Bestes gab, indem sie nach Paris abreiste, um Abstand von ihrer Liebe zu nehmen, um dort eine Kochschule zu besuchen, wo aus ihr eine echte Dame wurde.
    Auch wenn Geschichten dieser Art voller Klischees strotzten, liebten wir sie über alles.
    Wir waren eben alle durch und durch Mädchen.
    Vielleicht kamen wir deshalb auf diese seltsam verqueren Gedankengänge, die sich langsam aber sicher in unserem Gehirn festsetzten, während wir uns gegenseitig die Fingernägel lackierten.
    Kennedy schüttelte ihre Hände, damit ihr limettengrüner Nagellack trocknete.
    Meine Fingernägel hatte sie als erstes bearbeitet. Das hell leuchtende Rot war inzwischen längst getrocknet und ich machte mich daran Glorias Nägel in Aquamarin zu lackieren, was hervorragend zu ihrem dunklen Teint und den schwarzen Haaren passte, die inzwischen genauso lang waren wie meine. Allerdings wirkte auch Kennedy mit ihrer blonden, wilden Kurzhaarfrisur nicht unbedingt burschikos. Dafür war sie viel zu gut ausgestattet.
    Sie konnte alles tragen. Mal abgesehen von dem einen Sommer, in dem ich mich für einen Fashionkatalog hatte ablichten lassen, war sie die einzige von uns Freundinnen mit einer ernstzunehmenden Erfahrung als Model. Meine Fotos waren damals auch nur auf einem unbedeutenden Internetportal veröffentlicht worden.
    Gerade hatten wir darüber gelacht, was Gloria uns von ihrem letzten Date mit Kev erzählt hatte, den sie so sehr anhimmelte, seit sie ihm das erste Mal auf dem Gang unserer Schule begegnet war.
    Sie gingen jetzt bereits seit mehreren Monaten miteinander aus und er stellte sich noch immer an wie ein tollpatschiger, unerfahrener kleiner Junge, was wir irgendwie niedlich fanden.
    Zumal wir wussten, dass er vor Gloria bereits die ein oder andere Freundin gehabt hatte.
    In der Gegenwart meiner schönen Freundin fiel es ihm anscheinend schwer klar zu denken.
    Das wunderte mich nicht. Wäre ich ein Kerl gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich ebenfalls von ihrem strahlenden Glanz einschüchtern lassen.
    „Was sehen wir uns als nächstes an?“, brachte Kennedy zwischen einer weiteren Lachsalve hervor. Entrüstet blickte ich sie an.
    „Kennedy, wir reden hier gerade über Glorias Beziehung und nicht darüber, welcher Hepburn-Klassiker nun angebracht wäre“, erinnerte ich sie halb witzelnd, halb streng. Ich liebte es, wenn wir diese gemeinsamen Abende veranstalteten.
    Neben dem Schulstress, meinem stressigen Nebenjob in dem Schulbibliothek und der blutrünstigen Scheidung meiner Eltern half mir das dabei nicht den Verstand zu verlieren. Zumindest einigermaßen. Dabei war es nicht so, als hätte es bei meinen Eltern nicht schon viel eher gekriselt. Selbst mein zehnjähriger Bruder Nino hatte irgendwann begriffen, dass die beiden nicht mehr glücklich miteinander waren. Dass sie sich nicht mehr liebten, weil sie unterschiedliche Dinge wollten. Woran selbstverständlich beide nicht ganz unschuldig waren.
    Doch ausschlaggebend für ihre Trennung war wahrscheinlich Moms Affäre mit ihrem jüngeren Arbeitskollegen gewesen, mit dem sie jetzt zusammenziehen wollte – welch eine bittere Ironie.
    Kein Wunder, dass Dad sich da überlegte aus London nach York zu ziehen, um ein wenig Abstand zu gewinnen. Für mich stand jedenfalls fest, dass ich nicht bei Mom bleiben wollte.
    Ich liebte sie zwar trotzdem über alles, aber ich war auf der anderen Seite noch nicht dazu bereit ihr diesen schwerwiegenden Fehler zu verzeihen, der unsere Familie so brutal auseinandergerissen hatte. Und mit ihrem Freund und ihr einen auf happy Family zu machen.
    Zusammen mit ihrem Lover, der höchstens fünf Jahre älter war als ich. Nein, danke.
    Mit Dad nach York ziehen wollte ich allerdings auch nicht unbedingt.
    Dafür würde ich in London viel zu viel vermissen. Natürlich konnte er im Gegensatz zu Mom, die eine Kunstgalerie leitete, überall Autos verkaufen. Doch es gab nicht überall eine lebensfrohe Kennedy und eine dezent verrückte Gloria, die mich komplett machten.
    „Ist ja nicht einmal ganz sicher, ob wir überhaupt eine Beziehung führen“, riss Gloria mich aus meinen regen Gedanken und blickte betreten zu Boden.
    Scheu war sie ganz und gar nicht. Keine von uns hatte mit Schüchternheit zu kämpfen.
    Obwohl ich mich manchmal gerne aus dem Tumult zurückgezogen hätte, den wir stets auslösten, wenn wir gemeinsam durch die Stadt gingen. Manchmal machten wir uns sogar einen Scherz daraus die Anzahl Telefonnummern zu vergleichen, die man uns in der Stadt zugesteckt hatte.
    Oft veranstalteten wir daraus einen kleinen Wettbewerb. Aber nur, weil diese besagten Jungs es nicht wussten. Wir zählten schließlich nicht zu den fiesen Tussis, die andere nach Strich und Faden ausnutzten oder die Menschen verletzten. Denn wir hatten uns fest geschworen nur dann etwas mit einem Typen anzufangen, wenn wir es auch tatsächlich ernst mit ihm meinten.
    Spielen gehörte für uns zu einem absoluten No-Go. So nahe wie Gloria diesem Ziel mit Kev inzwischen war, war noch keine von uns gekommen. Deshalb überraschten mich auch ihre Worte.
    Beinahe wäre mir der Pinsel entglitten und ich hätte mich vermalt, obwohl ich im Lackieren von Fingernägeln eigentlich mindestens ebenso geübt war wie im Stylen meiner Haare, die täglich anders aussahen.
    Heute hatte ich mir einen Dutt gemacht, in dem eine Spange in Form einer dunkelroten Schleife steckte. „Hat er dich etwa immer noch nicht gefragt?“, stieß Kennedy beinahe hysterisch hervor.
    Diesen schrillen Tonfall beherrschte sie nahezu perfekt.
    Daran merkte man immer, wenn sie besonders aufgekratzt oder verwirrt war. Es war, als würde ihre Stimme jedes Mal eine Oktave höher steigen, ohne dass sie es selbst registrierte.

    Ratlos zuckte Gloria mit den Schultern und entzog mir ihre linke Hand, während ich die Nagellackflasche zuschraubte, damit der Inhalt nicht austrocknete. Wir waren alle fertig.
    Deshalb griff ich nach den Utensilien, die wir benötigt hatten, um sie wieder an ihren Platz zu räumen. Unordnung konnte ich genauso wenig ausstehen wie Rollkragenpullover oder Strümpfe in Sandalen. Während Kennedy und ich gespannt darauf warteten, dass Gloria eine Erklärung dafür liefert, dass Kev und sie, die das absolute Traumpaar abgaben, noch keinen Schritt weiter gekommen waren, stellte ich die Nagellackflaschen zurück auf das weiß gestrichene Regal zu den anderen.
    Seit einiger Zeit hatte ich sie nicht mehr gezählt, aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich inzwischen über fünfzig verschiedene Farben besaß. Verrückt, oder?
    Ihr solltet mal meinen Kleiderschrank sehen. Ich bin heilfroh, dass Dad die kleine Kammer neben meinem Zimmer zu einer Art Wandschrank umfunktioniert hat, der gut beleuchtet ist.
    Sonst hätte ich niemals alle Kleidungsstücke untergebracht, die ich mittlerweile besaß.
    Dank ausgiebiger Shoppingtouren mit meinen Freundinnen. Und es wurden beinahe täglich mehr. Es war wie ein innerer Zwang, für den ich jedoch nicht viel konnte.
    Allgemein war mein Zimmer noch mädchenhafter als das von Barbie. Obwohl meine Wände in einem klassischen Altrosa gestrichen waren, das man stellenweise sowieso nicht erkannte, weil ich einige Kollagen mit Fotos aufgehangen hatte. Bücher erblickte man auf meinen hellen Regalen jedoch kaum welche, weil ich sie alle sicher unter einer riesigen Kiste unter meinem Bett verstaut hatte. Das sparte Platz. Kennedy und Gloria kannten zwar meinen zweitgrößten Laster, aber da sie ihn nicht teilten, wollte ich die klassischen Werke aus dem Weg haben, wenn sie bei mir übernachteten. Kennedy las höchstens Modefachzeitschriften und Gloria nur die Zubereitung auf der Pizzaschachtel. „Er hat sich eben noch nicht getraut“, druckste Gloria für ihre Begriffe verunsichert, wobei sie an meinem hellen Teppich zupfte.
    Hoffentlich zog sie nicht zu viele Fäden.
    Misstrauisch legte ich die Stirn in Falten. Gloria zählte zu den absolut altmodischen Mädchen, die der Ansicht waren, dass es an dem Jungen war den ersten Schritt zu wagen.
    In dieser Hinsicht war Kennedy das genaue Gegenteil, denn sie betonte immer wie emanzipiert die Welt doch inzwischen sei. Dass Gloria mal lieber aufhören sollte in den Fünfzigern zu leben, obwohl sie die Film aus dieser Epoche ebenfalls liebte. Dass seien zwei verschiedene Paar Schuhe.
    Ich befand mich in dieser Hinsicht irgendwo in der Mitte. Mir war es im Grunde genommen gleichgültig, wer den ersten Schritt machte. Denn trotz meines mädchenhaften Charakters glaubte ich nicht an irgendwelche Märchen. Nach außen den Schein waren konnte ich, aber wenn es darauf ankam zweifelte ich an der Liebe. Meine Eltern hatten sich auf romantische Weise in Paris kennengelernt und mein Dad hatte meiner Mom einen Antrag auf dem Eiffelturm gemacht. Ihre Romanze hatte alles, was eine perfekte Liebesgeschichte benötigte.
    Doch was hatte es gebracht? Wohin hatte es sie geführt?
    Ihre Liebe war gescheitert, weil Mom etwas Besseres geboten worden war. Zumindest ihrer Ansicht nach. Sie hatte selbst nach den Sternen gegriffen, obwohl Dad ihr ein ganzes Sonnensystem zu Füßen gelegt hatte.
    Doch ich wollte meinen Freundinnen keinesfalls ihre Illusionen rauben, weshalb ich den Mund hielt, während zwischen ihnen eine wilde Diskussion entflammte.
    Darüber wer recht behielt und wer sich im Irrtum befand.
    „Dann ergreife du eben die Initiative! So schwer kann das doch nicht sein!“, redete Kennedy eindringlich auf Gloria ein, die sich leicht duckte. Als hätte Kennedy versucht sie zu attackieren. Derweilen machte ich mich an meiner Stereoanlage zu schaffen.
    Wenn wir uns schon keinen weiteren Film mehr ansahen, wollte ich wenigstens für stimmige Musik sorgen. Während das Gerät sich einschaltete, strich ich über meine cremefarbene Flanellhose mit den großen, schwarzen Punkten, die nicht nur modisch, sondern auch äußerst bequem war.
    „Ach ja? Was denkst du denn, wird Kev machen, wenn ich das getan habe?“, wollte Gloria angriffslustig wissen, die befürchtete, dass sie sich dadurch uninteressant machte.
    „Begeistert sein vielleicht? Sicherlich wartet er nur darauf, dass du endlich die Gelegenheit beim Schopf packst! Ehrlich... Frauen sollten die Männer mehr überraschen... Oder willst du dich ernsthaft in ein Klischee zwängen lassen?“, wetterte Kennedy und kam jetzt erst richtig in Fahrt.
    Ich wusste überhaupt nicht, wie häufig die beiden diese Diskussion bereits geführt hatten.
    Nach dem dreiundvierzigsten Mal hatte ich aufgehört zu zählen. Da hielt ich mich lieber neutral – ich war praktisch wie die Schweiz.
    „Sag du doch auch mal etwas, Skye!“, forderte Gloria mich hilfesuchend auf, der anscheinend die Argumente ausgegangen waren. Gegen Kennedy kam nicht einmal ein Rudel Wölfe an.
    Anstatt ihr zu antwortete, legte ich die CD ein, die auf meiner Kommode lag.
    Obwohl klassische Musik nicht zu meinem Lieblingsgenre gehörte, selbst wenn sie stimmig klang, zähle diese Platte zu meinen liebsten überhaupt. Wie oft hatte ich sie bereits gehört?
    „Ich halte mich da besser raus“, verkündete ich schlicht, während die ersten Töne des Pianos erklangen. Genervt verdrehte Gloria die Augen. Ob es jedoch an Kennedys kontroversen Ansichten oder an der Musik lag, die jetzt den Dachboden erfüllte, in dem sich mein großes Zimmer befand, damit ich meine Ruhe hatte, konnte ich nicht beurteilen.
    Vielleicht auch etwas von beidem. Jedenfalls hatte ich mein Ziel erreicht und meine Freundinnen widmeten sich nun anderen Themen als dem, was Kev wohl davon abhielt Gloria endlich zu küssen, bis sie umfiel. Während ich den zarten, unbeschreiblichen Klängen des Pianos lauschte, griff ich mir in mein kastanienbraunes Haar, das dank einer Pflegespülung von Gloria wieder über ausreichend Glanz verfügte. Manchmal brauchten sie so etwas einfach.
    „Was findest du eigentlich an dem?“, grummelte Gloria missgestimmt, die im Gegensatz zu Kennedy meine Begeisterung für den Künstler nicht teilte. Obwohl ihr es weniger auf sein Ausnahmetalent ankam. Ernsthaft... wie gelang es manchen Pianisten nur so viel aus einem Instrument herauszuholen? Nicht umsonst war der gerade einmal achtzehnjährige Jun Taro in ganz Großbritannien als der berüchtigte Jungpianist aller Zeiten bekannt. Und nicht nur dort, denn berühmt geworden war er zuallererst in Asien, wo er aufgewachsen war.
    Laut der britischen Medien sorgte er nicht nur in unserem Land dafür, dass klassische Musik endlich wieder gefragt war. Er löste einen regelrechten Hyphe aus, besonders bei den jungen Mädchen. Dass er gut aussah, fand ich zwar ebenfalls – jedenfalls auf den Bildern in verschiedenen Zeitschriften oder im Internet, sowie bei seinen diversen Fernsehauftritten.
    Aber mir kam es eher auf die Musik an. Vielleicht lag es ja auch daran, dass meine Mutter selbst aus einer Künstlerfamilie stammte, dass ich damit etwas anfangen konnte.
    Kennedy hingegen hatte ihn oftmals als Augenschmaus bezeichnet und sich sehnlichst gewünscht, dass er nicht in Dublin, sondern ebenfalls in London leben würde.
    Dabei war er ebenfalls erst vor einem Jahr nach Irland gekommen.
    Am besten in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Obwohl ich bezweifelte, dass ein Prominenter wie er in eine Wohnhaussiedlung gezogen wäre, in dem Ruhe ein Fremdwort war.
    Deshalb hielten wir unsere Mädchenabende auch viel lieber in unserem Einfamilienhaus ab.
    Auch wenn sich nur noch fragte, wie lange uns das möglich sein würde.
    Jetzt wo meine Familie ein gespaltenes Haus war.
    Ich hatte immer noch nicht entschieden, für welche Variante des Rosenkrieg-Hölle ich mich entscheiden wollte. Dad vor den Kopf stoßen, indem ich diese Verräterin Mom in ihrer Beziehung unterstützte, oder mein gewohnter Umfeld zu verlassen und in York komplett neu anzufangen.
    Keine dieser Optionen erschien mir wirklich berauschend.
    Ich konnte es überhaupt nicht abwarten einen von den beiden zu enttäuschen, weil ich lieber bei dem anderen lebte.


    Irgendwann hatte sich Gloria an die sanften Klänge der Musik gewöhnt, die sie als langweilig bezeichnete und wir lachten ausgelassen. Die Stimmung wurde immer besser und ausgelassener.
    Von dem Streit, welchen die beiden noch vor kurzem gehabt hatten, war absolut keine Spur mehr.
    Als ich dann für karamellisiertes Popcorn sorgte, schien die Überdosis an Zucker uns dann unzurechnungsfähig zu machen. Lachend krümmten wir uns auf dem Boden.
    Bis auf Kennedy, die sich auf meiner großen Matratze auf meinem Bett ausgebreitet hatte und sich eines meiner bunten Kissen mit dem Blumenmuster geschnappt hatte. Weil ich diese so gerne mochte, zogen mich meine Freundinnen häufig auf. Dabei war das gerade wieder modern und ich hatte es bereits vorher gemocht. Übrigens erging mir das mit vielen Trends so. Mom meinte immer, dass das nur daran läge, dass die Frauen unserer Familie selbst Trends setzten.
    Das hatte sie mir gesagt, als meine Welt noch in Ordnung gewesen war. Bevor aus unserer Familie eine zerrüttete Bande geworden war, die sich allmählich ins Nichts auflöste. Dad packte bereits seine Sachen zusammen, woran ich nur ungern dachte.
    Am liebsten hätte ich seine Kartons verbrannt. Doch das hätte nur dazu geführt, dass er sich neue besorgte. Sein Entschluss noch einmal neu anzufangen stand fest. Wobei ich wusste, dass er weder mich, noch Nino im Stich lassen wollte. Deshalb hoffte er auch immer noch darauf, dass auch ich ihn begleitete. Ich schuldete meinen Eltern noch eine Antwort. Bei Nino stand schließlich längst fest, dass er Dad nach York begleiten würde, da Mom in ihrem Job viel zu viel zu tun hatte, um sich um ihn zu kümmern. Sagte das nicht schon alles über ihren und Daddys Charakter aus?
    Außerdem freute der Kleine sich auf diesen Tapetenwechsel. Dafür würde er Mom ein Wochenende im Monat, sowie während der Ferien besuchen kommen.
    Ich wusste, dass Nino mich gerne dabei gehabt hätte. Denn trotz kleinerer Kabbeleien, die unter Geschwistern normal sind, war er verrückt nach mir. Ja, mein kleiner Bruder hing wirklich an mir. Aber darin bestand der Nachteil bereits kurz vor der Volljährigkeit zu stehen. Meine Eltern erwartete eine vernünftige Entscheidung von mir, die ich auch entsprechend begründete.
    An diesem Abend versuchte ich so wenig wie möglich darüber nachzudenken, was mir bevorstand. Obwohl der Gedanke mir bereits seit geraumer Zeit durch den Kopf schwirrte.
    Er hatte sich dort festgesetzte und häuslich eingerichtet.
    Damit ging es ihm mir gut, mir hingegen ging es hundsmiserabel.
    Vielleicht ließ ich mich deshalb zu dieser Albernheit mit meinen Freundinnen hinreißen. Vermutlich dachte ich deshalb nicht genauer darüber nach. Lachend lag ich auf dem Boden und blickte unvermittelt an die Zimmerdecke.
    „Wisst ihr eigentlich schon von diesem Eliteinternat für Jungs, das sich in einem Vorort von London befindet?? Mit dem Zug sind es von uns aus etwa vierzig Minuten“, lenkte Kennedy kichernd ein.
    Stirnrunzelnd griff ich nach einem Kissen und warf es in ihre Richtung. Leider verfehlte es sie.
    Wie kam sie jetzt von den Waffeln, die wir neulich in der Schule gebacken hatten und die schrecklicher ausgesehen hatten als sie geschmeckt hatten, auf ein Eliteinternat für Jungs?
    „Was interessiert uns eine Knabenschule?“, sprach Gloria meinen Gedanken aus und stieß mit ihrem Fuß gegen mein Bein. Wenn sie es so haben wollte. Ich tat es ihr gleich.
    Bald darauf lieferten wir uns ein Duell mit unseren Beinen, das Kennedy gekonnt ignorierte, die sich inzwischen aufgesetzt hatte. „Das fiel mir gerade ein, als ich die einfühlsamen Klänge dieses Poeten gehört habe, der bestimmt ein extrem guter Liebhaber ist“, umschrieb sie es schwungvoll und meinte damit Jun. Da passte sie zu den zahlreichen Mädchen, die für ihn schwärmten und die praktisch einen Schrein errichtet hatten, um ihn anzubeten.

    Wie viele Mädchen aus unserer Schule. Mitten in der Bewegung hielt ich inne, was Gloria einen deutlichen Vorteil lieferte. Dafür würde die nächste Runde an mich gehen.
    „Was hat denn dieser Mozart für Arme damit zu tun?“, stichelte Gloria gehässig, obwohl er soweit ich wusste eine Stange Geld damit verdient hatte eine Musikrichtung populär zu machen, die normalerweise von Leuten in unserem Alter gemieden wurde.
    Vielleicht war er auch deshalb reich.
    „Gerüchten zufolge besucht er diese Schule seit einigen Monaten, um dort seinen Abschluss zu machen“, verkündete Kennedy, wobei ihre Augen gefährlich leuchteten.
    In ihr konnte man ebenso gut lesen wie in einem Buch. Daher vermutete ich, dass sie sich darüber freute ihn in der Nähe zu wissen.
    „Ich dachte er lebt inzwischen in Wales?“, erkundigte sich Gloria mit hochgezogener Augenbraue.
    „In Dublin, Schätzchen. Das ist in Irland“, erinnerte ich sie mit einem ironischen Lächeln.
    „Leider ist die Schule wie gesagt nur für Jungs und sie soll auch schwer bewacht sein, damit ja keine Unbefugten rein kommen und die reichen Musterknaben beim Lernen stören“, seufzte Kennedy tief, womit sie unsere Unterhaltung komplett unter den Tisch fegte. Oder in diesem Fall eher unter mein Bett. Vielleicht hatte sie bereits einen Plan ausgeheckt, um doch einen Blick auf ihn zu erhaschen. Ich kannte sie doch. Vor drei Jahren hatte sie das Gleiche bei dem Gitarristen ihrer Lieblingsband versucht. Der Schuss war leider komplett nach hinten losgegangen, aber Kennedy gab sich nicht so einfach geschlagen.
    Ihr Lebensplan beinhaltete nämlich eine berühmte Persönlichkeit zu heiraten, um selbst zu einer Art First Lady zu werden.
    „Wenn du ein Junge wärst, würdest du bestimmt versuchen dich um einen Platz an diesem Internat zu bewerben“, fing nun auch ich an zu sticheln, worauf sie mir einen gespielt bösen Blick zuwarf. Weil ich sie einfach gut genug kannte. Was ich nicht wusste, war, dass dieser Satz den Stein erst ins Rollen brachte. Auf einmal kicherte Gloria eigenartig diabolisch.
    Was niemals etwas Gutes verhieß. Shcon gar nicht im Zusammenhang mit dem Zuckergehalt, den wir bereits verdrückt hatten.
    „Könnt ihr euch Skye an einem Jungeninternat vorstellen?“, neckte Gloria mich unverhohlen, worauf ich empört nach Luft schnappte. Rein theoretisch hätte sie jeden von uns drei nehmen können. Auch Kennedy begann jetzt lauthals zu lachen.
    „Wahrscheinlich würde sie alles aufhübschen und die feinen Schuluniformen mit Blumenbroschen versehen. Dann würde auch alles nach ihrem Parfum nach Glockenblumen duften“, zog sie mich weiter auf. Kerzengerade setzte ich mich in aufrechte Position.
    Normalerweise war ich absolut ausgeglichen. Mich brachte nichts so leicht aus der Ruhe. Deshalb wunderte es mich auch, dass ich dermaßen auf ihre Worte ansprang, die eher ein Scherz sein sollten. Aber gerade taten sie wirklich so, als wäre ich eines dieser zarten Modepüppchen.
    „Oh ja... und sie würden sich um sie streiten und sich gegenseitig verprügeln...“, meinte Gloria glucksend. Vorwurfsvoll musterte ich meine Freundinnen. Hielten sie mich etwa für dermaßen unfähig mit Jungs zu kommunizieren? Anders als sie nannte ich zwar keine Jungs meine Freunde, aber ich hätte auch locker Kumpel haben können, wenn ich das wirklich gewollt hätte.
    Genau das wollte ich ihnen deutlich machen. Trotzig reckte ich mein Kinn.
    „Ich wäre ein besserer Junge als jede von euch!“, stellte ich eisern klar, worauf Kennedy und Gloria verwirrte Blicke wechseln. Nur um in der nächsten Sekunde wieder in schallendes Gelächter auszubrechen. Sie nahmen weder mich, noch meine Worte ernst!
    „Du würdest die Scherze unter Jungs nicht für zwei Minuten aushalten, ganz zu schweigen von einer Scharade wie dieser“, merkte Kennedy wissend an, „Außerdem würdest du sofort gnadenlos auffliegen.“ Dabei hatte sie keine Ahnung, wie sehr sie damit meinen Wetteifer anstachelte.
    Ich lange nach dem Popcorn, aß einige Bissen und schluckte. Schließlich besaß ich Manieren.
    Auf einmal grinste Gloria verwegen.
    „Siehst du... Du gibst ein hervorragendes Mädchen ab, aber als Junge wärst du leider viel zu ungeeignet. Du würdest keine Freunde finden oder sofort auffliegen“, ergänzte sie ernst.
    Das reichte. Endgültig. „Wetten doch?“, wollte ich herausfordernd wissen, worauf Kennedy eine Augenbraue nach oben zog, wobei sie mich von oben bis unten musterte.
    Ich wusste ganz genau, was sie dachte. Dass ich mit meiner zarten, blassen Haut nicht über das passende Aussehen verfügte, um als Junge durchzugehen. Dass meine karamellbraunen, langen Haare und meine moosgrünen Augen eher ein Hindernis darstellten. Aber ohne Make-up und mit der richtigen Aufmachung wäre ich sicherlich ein besserer Kerl als manch ein richtiger Junge.
    Davon war ich felsenfest überzeugt.
    „Sie würden mich lieben“, setzte ich rasch hinzu. Glorias Grinsen deutete etwas Unheilvolles an.
    Und damit besiegelte ich mein Schicksal, denn auch ich wollte diese nahezu irrsinnige Herausforderung annehmen. Es überraschte mich nicht einmal mehr, als Gloria mir schließlich vorschlug mich an diesem Internat um ein Stipendium zu bewerben. Schließlich dauerten die Sommerferien noch ganze drei Wochen an und manchmal nahmen Schule, wie diese auch kurzfristig neue Schüler auf.
    Wahrscheinlich glaubten sie ich würde in letzter Sekunde kneifen. Selbst wenn ich damit durchkäme. Aber ich besiegelte diese Wette mit einem Schwur. Denn ich war felsenfest davon überzeugt einen dermaßen perfekten Jungen spielen zu können, dass ihnen Hören und Sehen verging. Dass ich mir damit einen gewaltigen Ärger einhandelte, bedachte ich nicht im Mindesten. Vielleicht wollte ich aber auch nicht darüber nachdenken, sondern endlich etwas wagen. Aus meiner Wohlfühlzone entfliegen und etwas gewagtes, verrücktes tun.
    Vielleicht war es aber auch einfach nur extrem leichtsinnig.


  • Kapitel 2 Mit den Waffen eines Jungen~

    „Mr. Dalton?“, ertönte eine näselnde Männerstimme, während ein Mann seinen Kopf durch die offene Tür steckte. Die Gestalt, zu der diese Stimme gehörte, erinnerte mich wage an einen Butler aus einem britischen Film. Dass es sich bei ihm um eine Lehrkraft handelte, hätte ich nicht einmal vermutet, wenn er sich ein entsprechender Schild um den Hals gehangen hätte, das darauf hinwies.
    Endlich hatte er mich aufgerufen. Dabei hatte ich bereits befürchtet im Korridor überwintern zu müssen, obwohl niemand vor mir hier gewesen war.
    Ich überspringe einfach mal den Teil meiner Story, der erläutert, wie ich tatsächlich an ein halbes Stipendium für eine Jungenschule gekommen bin. Oder auf welch raffinierte Weise ich meine Eltern ausgetrickst habe, um dieses leicht idiotische Vorhaben in die Tat umzusetzen.
    Das war jedoch echt leicht gewesen.
    Die glaubten nämlich, dass die Schule, die etwas außerhalb von London lag, und die ich künftig besuchen würde ein reines Mädcheninternat sei. Ha ha ha. Vielleicht war das ja Naivität?
    Ihr enormes Aufmerksamkeitsdefizit hatte ich ihrer Scheidung zu verdanken, die beide ganz schön verausgabte. Sonst hätten sie wahrscheinlich etwas besser darauf geachtet, was ihre Tochter – oder in diesem Fall wohl eher ihr neuer Sohn – so trieb.
    Aber nein, so weit mich wegen dieses dämlichen Plans, der nur wegen einer Wette entstanden war, einer Geschlechtsumwandlung zu unterziehen, ging ich nicht.
    Schwieriger war es gewesen eine Broschüre über das Internat zu finden, in dem nicht erwähnt wurde, dass die 1889 gegründete Fakultät von Anfang an nur für männliche Schüler vorgesehen war. Mit dem halben Stipendium waren die Gebühren für meine Eltern sogar tragend.
    Vielleicht spielte aber auch das schlechte Gewissen meiner Eltern eine Rolle, dass sie mir das gewährten, was Mädchen in meinem Alter normalerweise ausschlugen.
    Nachdem was sie Nino und mir zumuteten wollten sie mir wahrscheinlich nichts abschlagen, was wichtig für meine Zukunft sein könnte. Immerhin war das mein allerletztes Schuljahr und ich musste mich in den nächsten Monaten an mehreren guten Universitäten bewerben.
    Mom war nichts wichtiger als meine weitere Bildung und Dad wurde von seinem schlechten Gewissen gelenkt, obwohl dafür kein Grund bestand.
    Kennedy hatte sich kurzzeitig darüber gesorgt, dass der Schwindel auffliegen würde, wenn man nach meinem Personalausweis fragte. Denn darin war eindeutig zu erkennen, dass ich ein Mädchen war. Geschlechtsneutraler Name hin oder her. Doch für die Anmeldung war bloß ein Passfoto wichtig gewesen, ebenso wie einige andere Angaben, wie etwa Allergien, eventuelle Krankheiten und diverse andere Belanglosigkeiten. Nur zu gut, dass sie kein Gesundheitsattest verlangten.
    Und da meine alte Schule in der Verwaltung unterbesetzt war und ich in meinem Nebenjob in der Bibliothek, den ich selbstverständlich aufgeben musste, teilweise selbst Büroarbeit erledigen musste, war es auch ein Leichtes ein Bestätigungsfax loszuschicken.
    Jetzt war ich dankbar den Job in der Schulbibliothek angenommen zu haben, obwohl er unterbezahlt war und ich ihn aufgeben musste, sobald ich wechselte.
    Auf diese Weise musste unsere Direktorin meinen Schulwechsel jedenfalls nur noch mit einer Unterschrift bescheinigen. Und das erforderte lediglich ein Telefonat meiner Eltern, die ich ebenfalls ordentlich an der Nase herumgeführt hatte. Es hatte keine drei Wochen gedauert und bislang war alles reibungslos verlaufen. Wie verrückt dieses Vorhaben war, und das wegen einer lächerlichen Wette, kam mir erst in den Sinn, als es tatsächlich ernst wurde.
    Ja, etwas zu sagen und es dann auch zu tun sind nämlich zwei völlig unterschiedliche Paar Schuhe.
    Vielleicht war Mom auch erleichtert darüber, dass ich nun doch nicht weit von ihr weg sein würde, da das Internat sich in der Nähe von London befand.
    Aber sie verabschiedete sich mit einer schlichten Umarmung von mir. Weil wir uns ja jedes Wochenende sehen konnten. Es wäre ihr zwar lieber gewesen, wenn ich auch unter der Woche daheim hätte schlafen können, aber ich hatte ihr bereits klargemacht, dass es verpflichtend war während der Schulzeit im Internat zu leben. Um die Schulaktivitäten zu fördern, wie ich betonte.
    Das stimmte nur zum Teil. In Wahrheit wollte ich es einfach nicht darauf ankommen lassen, weil ich getrost auf sie und ihren jungen Lover verzichten konnte. Es war , dessen Name mir gerade nicht mehr einfiel. Irgendetwas mit P. Es war auch nur eine Frage der Zeit, bis er bei uns einzog. Jedenfalls bestand Mom nicht darauf mich zu begleiten, oder mit dem Direktor zu sprechen, was echtes Glück war. Mehr oder weniger.
    Solche Sachen hatten sie niemals interessiert. Solange es viel Geld kostete musste es seriös sein, so lautete ihre Devise. Ich zog mich auf der Bahnhofstoilette um, bevor mein Zug eintraf, was bei einigen Passanten für eine ziemliche Verwirrung sorgte. Klar, wenn man als Mädchen ein WC betrat und es als Junge wieder verließ. Öffentliche Toiletten mied ich in Zukunft besser.
    Alles lief wie am Schnürchen. Als hätte eine höhere Macht es so gewollt.
    Diese Wette würde ich mit Leichtigkeit gewinnen. Und vielleicht lernte ich sogar etwas dabei?
    Dafür lieferte mich aber Kennedy im Internat ab, die unbedingt sehen wollte, wie ein Jungeninternat von innen aussah. Als wären das irgendwelche heiligen Hallen. Oder als wäre es von jenen zu unterscheiden, die man diversen Fernsehserien zu sehen bekam, die meine Freundinnen und ich uns hauptsächlich wegen der süßen Schauspieler reinzogen.
    Gloria und sie bedauerten es zwar zutiefst, dass wir nicht länger an eine Schule gingen, was uns einige Möglichkeiten versagte eine Menge Spaß zu haben, andererseits waren sie erleichtert darüber, dass ich mich gegen York entschieden hatte und dafür für London.
    Auch wenn wir uns nicht allzu oft sehen würden. Wir waren ja nicht ganz aus der Welt.
    Obwohl sich die Gegend um das Internat beinahe ländlich anfühlte. Vermutlich weil es weit außerhalb vom Zentrum lag. Jedenfalls konnten wir uns auf diese Weise ja immer noch regelmäßig treffen. Bevor wir das durchweg elegante Gebäude mit der imposanten, steinernen Fassade, das von Efeu umrankt wurde und hohe Fenster besaß, betreten hatten, hatte Kennedy mich jedoch unvermittelt am Arm ergriffen, worauf ich abrupt stehen geblieben war.
    Beinahe wären die Rollen meines grünen Koffers in den unebenmäßigen Pflastersteinen hängen geblieben. „Du musst das nicht machen, Skye“, hatte sie voller Sorge betont und mich aus ihren ernsten, blauen Augen angeblickt, worauf ich bloß schwach genickt hatte. Mein Blick war allerdings fest entschlossen geblieben. Das wusste ich auch.
    Gloria und sie hätten niemals erwartet, dass ich es bis hierhin schaffte.
    Für sie war es an jenem Abend wahrscheinlich wirklich nur ein Spaß gewesen, wohingegen ich daraus Ernst gemacht hatte.
    Im Grunde genommen war es bereits ein Triumph, dass man ich so zügig angenommen hatte, und das ohne jegliche Komplikationen.
    Was ich nicht zuletzt den Kontakten zu verdanken hatte, die Glorias Familie besaß.
    Vielleicht hatten sie gedacht ich würde einen Rückzieher machen, bevor es richtig losging, doch eigentlich sollten sie mich besser kennen.


    Genau deshalb schüttelte ich den Kopf und befreite mich aus Kennedys eisernem Griff. Man nannte sie nicht umsonst Kneifzange. Okay, so nannte sie niemand, aber ein bisschen nervös wegen dieses riskanten Vorhabens durfte ich ja wohl sein, oder? Wer verübelte mir da irgendwelche miesen Scherze? Für mich gab es keine halben Sachen. Schon gar nicht, wenn es um irgendeine Wette ging. Natürlich zählte auch der Einsatz für diesen Wettkampf. Immerhin hatten Gloria und Kennedy mir angeboten ihre Ersparnisse für eine gemeinsame Reise nach Paris hinzublättern, sollte ich das bis zum bitteren Ende durchziehen. Seit ich ein kleines Mädchen bin träume ich nämlich bereits davon diese berauschende Stadt zu besuchen. Einmal auf dem Eiffelturm zu stehen und die Aussicht zu genießen, welche man vom obersten Punkt genießen kann.
    An dem Ort, wo alles seinen Anfang genommen hat. Trotz allem wollte ich immer noch dahin.
    Kennedy und Gloria wussten, wie verlockend dieses Angebot für mich klang.
    Von mir hatten sie dagegen lediglich gefordert, dass ich mich einen Tag lang als Strauß verkleidete – das entsprechende Kostüm hing bereits seit einigen Jahren und Glorias Kleiderschrank und wartete nur auf seinen Einsatz – und damit durch die Londoner Innenstadt lief.
    Wenn es weiter nichts war. Mal ganz abgesehen davon, dass ich eine bessere Schauspielerin abgab als sie annahmen. Immerhin hatte ich Erfahrungen innerhalb unserer Theater-AG. Vergangenes Jahr hatte ich nämlich die Julia in „Romeo und Julia“ gespielt.
    Auch wenn der Regisseur das Stück etwas verunglimpft hatte. Schließlich war das nicht der Verdienst der Schauspieler.
    „Wirklich... du musst das nicht auf Teufel komm raus machen“, fuhr Kennedy beinahe verzweifelt fort und biss sich nervös auf die Unterlippe, wobei sie sich alarmiert umblickte. Als würden wir jede Sekunde auf frischer Tat ertappt werden. In gewisser Weise taten wir ja wirklich etwas Verbotenes. Wie viele Mädchen würden sich an einem Jungeninternat einschreiben, wenn es erlaubt wäre?
    Allein diese Fragestellung entbehrte sich jeglicher Logik.
    Machte sie sich etwa Sorgen? „Ich werde auch Gloria dazu überreden auf dieses Straußenkostüm zu verzichten... Dann kannst du zurückkommen und unsere langweilige, graue Schuluniform tragen und wir vergessen das Ganze einfach. Was hältst du davon? Skye, lass es einfach gut sein und komm wieder an unsere Schule... du musst echt niemandem etwas beweisen“, setzte sie rasch hinzu, wobei sie sich leicht verhaspelte.
    Allmählich glaubte ich es war an der Zeit ihr ordentlich den Kopf zu waschen, deshalb packte ich sie an den Schultern. Im gleichen Moment kamen drei Jungs vorbei, die ein wenig junger wirkten als wir. Sie trugen die marineblauen Uniformen mit dem Wappen der Schule, welche wesentlich eleganter aussahen als unsere Lumpen, die man uns an unserer Schule aufzwang.
    Eine anmutigen Löwen zierte das Wappen meiner neuen Schule. Na ja, diese Schule hieß schließlich nicht umsonst „The Lion Academy“, obwohl ich das als völlig überzogen und lächerlich empfand. Welche Schule hatte einen derart bescheuerten Namen? Wenigstens machte das Gebäude optisch sehr viel her und wirkte auf mich auch äußerst gepflegt.
    Nur weil es sich um ein Domizil von Jungs handelte, bedeutete das ja nicht zwangsläufig, dass es dreckig sein musste.
    Auf jeden Fall pfiffen diese Jungs zwischen den Zähnen. Vermutlich dachten sie, dass Kennedy und ich mehr seien als Freunde. Mit derartigen Missverständnissen musste ich ab sofort wohl oder übel rechnen.
    „Kennedy“, aus ernsten Augen blickte ich sie an und übte mich an meiner Jungenstimme.
    Na ja, ich klang als hätte ich keinen richtigen Stimmbruch hinter mir, aber wenigstens hörte es sich natürlich an. Ich hatte nämlich ordentlich recherchiert, bevor ich mich in dieses Chaos gestürzt hatte. Es gab sogar ziemlich viele Jungs, die viele weibliche Züge aufwiesen. War ich eben ein extrem femininer Junger.
    Außerdem hatte ich mich mit dem Rest meiner Verkleidung so schön bemüht.
    Auch wenn ich einen sehr kleinen, schwächlichen Jungen abgab.
    Wenigstens kam es mir jetzt zugute, dass ich nichts von Moms üppiger Oberweite besaß. Dass ich mich darüber einmal freuen würde, hätte ich niemals erwartet. Obwohl ich mir natürlich trotzdem die Brust hatte abbinden müssen, was anfangs ein ungewohntes Gefühl gewesen war.
    Man gewöhnt sich aber an alles.
    Na ja, Kennedy hätte ebenfalls kaum eine Chance gehabt hier auszuhalten mit ihrer hügeligen Landschaft, wenn ich es mal so ausdrücken darf.
    „Ich stehe zu meinem Wort... Jetzt wo ich schon einmal hier bin“, ergänzte ich enthusiastisch und zog sie in Richtung Eingang. Vielleicht wollte sie einen Rückzieher machen, zu mir passte das nicht. Auch damals beim großen Torten-Wettessen bei der Poolparty unserer Mitschülerin, als wir dreizehn gewesen waren, hatte ich mehr von den Torten gegessen als Gloria und Kennedy zusammen. Dabei war ich wesentlich schmaler gebaut als sie.
    Manchmal kam ich ihnen vor wie eine dieser Wunderkisten oder wie die Handtasche von Mary Poppins, weil so vieles in mich reinpasste.
    Dass ich mich durch nichts unterkriegen ließ, war wahrscheinlich eine Eigenschaft, die ich von meinem lieben Vater geerbt hatte. Und auch wenn mir nicht ganz klar war, wem ich damit eigentlich etwas beweisen wollte, so wusste ich doch, es war das einzig richtige es durchzuziehen.


    Wie einfach das funktionierte wurde deutlich, als ich im Büro des hiesigen Schulleiters Mr. Kaiser saß, der mich nach langer Wartezeit endlich zu sich gebeten hatte.
    Wir hatten bereits miteinander telefoniert, um einige Formalitäten zu klären.
    Allerdings hatte er mich für meine Mutter gehalten.
    Ich konnte sie echt gut imitieren. Aber irgendwie hatte ich dieses gefährliche Telefonat ja umgehen müssen, bei dem womöglich alles aufgeflogen würde, wenn ich das tatsächlich meiner leicht stoischen Mutter überlassen hätte. Bisher war alles so reibungslos verlaufen, ich hätte am liebsten vor Erleichterung aufgelacht. Doch eine weitere immense Hürde galt es noch zu überwinden. Der Junge Skye Dalton – wenigstens der Name war mein echter – musste die Zerreißprobe bestehen, sobald er dem Schulleiter in voller kleiner Größe gegenüberstand. Und das tat er durchaus.
    Obwohl Mr. Kaiser mich mit seinen Argusaugen kritisch beäugten, die mich tatsächlich gewaltig an einen Raubvogel erinnerten. Vielleicht hielt er mich tatsächlich für einen ziemlich kläglichen Jungen, aber dann ließ er sich wenigstens nichts davon anmerken.
    Sicherlich aus Respekt. Oder aus Mitleid. Letzteres wäre bedauerlich, aber immerhin war es sehr hilfreich für mein Theater.
    Bedauerlicherweise hatte Kennedy draußen warten müssen. Aber diese Form von Verständnis wäre wohl schon zu viel erwartet gewesen. Schließlich konnten wir froh sein, dass sie überhaupt so kurzfristig einen Besucherausweis bekommen hatte, um mich zu eskortieren.
    Diesen benötigte man nämlich als Gast der noblen Einrichtung. Wie ein erstklassiges Gefängnis.
    Obwohl es mir beinahe erschien, als würde Mr. Kaiser massiv etwas gegen Mädchen einzuwenden haben. Ob es daran lag, dass er eine reine Jungenschule leitete?
    Oder leitete er eine reine Jungenschule, weil er das weibliche Geschlecht verabscheute? Ich wusste es nicht. Musste es so sein? Waren etwa alle Lehrer hier genauso eingestellt wie er? Ich hinterfragte es besser nicht, sondern war dankbar dafür ihm aufgetischt zu haben sie sei meine ältere Cousine, die mich anstelle meiner Eltern brachte, die leider keine Zeit hatten, um mich zu begleiten. Was eine glatte Lüge war, aber mit denen würde ich in naher Zukunft wohl noch häufiger konfrontiert werden. Verstrickt in einem Netz aus Lügen – hoffentlich würde ich sie mir alle merken können. Kennedy wirkte tatsächlich schon wesentlich reifer als jedes andere Mädchen aus unserem Jahrgang. Während ich immer mindestens ein Jahr jünger geschätzt wurde, gingen Gloria und sie bereits als volljährig durch. Wie dem auch sei... Mr. Kaisers Büro, das mit zahlreichen Büchern vollgestopft war, die keine bestimmte Ordnung zu besitzen schienen, ebenso wie mit verschiedenen Uhren, musste ich allein betreten. Es roch irgendwie nach gebratenen Nudeln und Sojasauce, aber vielleicht täuschte ich mich ja auch.
    Nachdem er sich kurz mit Smalltalk aufgehalten hatte, händigte er mir schließlich eine Art Handbuch aus, das anscheinend das Regelwerk der Fakultät beinhaltete, stellte mir noch einige Fragen zu meiner vorherigen Schule. Nein, ich war vorher noch auf keinem Jungeninternat gewesen. Ja, ich hatte in einer AG mitgewirkt. In dem Theaterklub.
    Zumindest das war keine Lüge, was für beides galt. Ansonsten hatte ich mir eine sehr gute Hintergrundgeschichte ausgedacht. Nämlich die, dass es die Idee meiner Eltern gewesen sei mich herzuschicken. Damit ich bessere Chancen hatte mich für eine herausragende Universität zu qualifizieren. Diesen Köder schien er sofort zu schlucken, da es ja nicht weit hergeholt war.
    Einen Personalausweis musste ich glücklicherweise nicht vorzeigen.
    Wie ich ihm meine langen Haare und die dezente Schminke hätte erklären sollen, ebenso wie den rot gepunkteten Haarreif, hätte ich auch nicht gewusst.
    Obwohl Mr. Kaiser mich garantiert für einen schrägen Vogel hielt, der bestimmt Probleme mit anderen Mitschülern kriegen würde – diesen Gedanken sah ich seinen kleinen Augen sofort an – schien er meine Tarnung zu schlucken. Wenigstens etwas.
    Er teilte mir meine Zimmernummer mit, händigte mir einen Schlüssel, sowie einen Gebäudeplan von der Schule aus und entließ mich aus seiner kleinen Kammer. Eine Führung musste ich wohl nicht erwarten. Sicherlich weile meine Eltern nicht zu den spendablen Wohltätern zählten, die diese Institution finanzierten. Hey, ich wusste immerhin, dass die meisten Schüler zu hochangesehenen Familie gehörten. Aber auch meine Dokumente hatte Mr. Kaiser glücklicherweise nicht hinterfragt.
    Man nimmt ja das, was man kriegen kann.
    Nachdem mich der eher wortkarge Direktor also entlassen hatte, kehrte ich zu Kennedy zurück, die bereits Freunde gefunden hatte, während sie auf dem Gang auf mich gewartet hatte.
    Bei ihr ging das aber auch immer so schnell und problemlos vonstatten.
    Eine Gruppe Vierzehnjährige umringte sie wie ein Schwarm Fliegen eine Torte.
    Merkt man irgendwie, dass ich etwas für Süßigkeiten übrig habe?
    Mit einer gezielten Handbewegung scheuchte ich ihre neuen Anhänger weg, was sie sich bestimmt nur deshalb bieten ließen, weil Kennedy ihnen ein umwerfendes Lächeln schenkte, dem einfach niemand widerstehen konnte. Diese Art von Blick beherrschte sie wirklich perfekt.
    Wir alle hatten diesen Kniff drauf. Nur leider musste ich in Zukunft darauf verzichten mir durch mein Lächeln Pluspunkte zu sammeln.
    Zumindest wenn ich nicht sofort auffliegen wollte. Denn dass ich jetzt einigermaßen wie ein Junge aussah – meinen Stylingkünsten sei dank – bedeutete nicht zwangsläufig, dass man es mir nicht doch irgendwann an der Spitze meiner Stupsnase ansah.
    „Und?“, erwartungsvoll blickte Kennedy mich an. Vielleicht täuschte ich mich, aber da lag auch etwas wie ein Hoffnungsschimmer in ihrem Blick verborgen. Wollte sie etwa so sehr, dass ich diese Wette verlor? Oder machte sie sich tatsächlich Gedanken diese ganze Aktion könnte ein Fehler gewesen sein? Ich trat neben meinen Koffer, den ich bei ihr gelassen hatte.
    Bevor ich nach dem Henkel griff, umarmte ich sie jedoch noch einmal fest.
    So sehr sie die Gänge auch bestaunt hatte, der Besucherausweis galt nur für eine Stunde, und die war beinahe vergangen. Wenn eine Lehrkraft sie danach auf dem Gelände erwischte, würde das sicherlich für uns beide unangenehm werden. Sie drückte mich so fest an sich, dass ich beinahe kaum noch Luft bekam. „Ich bin ja nicht aus der Welt“, ächzte ich schweratmig und versuchte sie vorsichtig von mir wegzuschieben. Anscheinend bemerkte sie meinen verbissenen Gesichtsausdruck sofort. Voller Sorge musterte sie mich. Ein schlechtes Gewissen musste sie nicht haben. Weshalb auch? Immerhin hatte ich dem selbst zugestimmt.
    Ja, ich wollte dieses Abenteuer. Weil es spannend zu werden versprach.
    Auch steckte ich voller Erwartungen. Welches Mädchen konnte schon von sich behaupten ein reines Jungeninternat besucht zu haben? Eben... Keines bei klarem Verstand.
    ich würde als Legende in die Geschichte eingehen.
    „Pass gut auf dich auf, halte dich von irgendwelchen Gangs fern und melde dich ja regelmäßig bei uns“, ermahnte sie mich streng. Als würde es hier zwielichtige Typen geben.
    Das Unheimlichste waren wahrscheinlich Kaninchen in Anzügen, die sich fragten, welchen Tee sie trinken sollten. Beruhigend lächelte ich sie an. „Ja, Ma'am, das werde ich, keine Sorge“, scherzte ich locker, wobei ich scherzhaft salutierte, bevor wir uns voneinander verabschiedeten. Obwohl ich ihr anbot sie noch zurück zum Schultor zu begleiten, lehnte sie mit einem Kopfschütteln ab. Anscheinend war Kennedy der Ansicht ich sollte mich erst einmal mit diesem Ort vertraut machen.


    Es hatte mich eine Menge Überwindung gekostet meine langen Haare zumindest ein Stück abzuschneiden. Anders war es einfach nicht möglich.
    Allerdings hatte ich mich strikt gegen eine Kurzhaarfrisur geweigert. Das stand vielleicht Kennedy, aber nicht mir. Wozu gab es denn bitte Kurzhaarperücken und Haarnetze? Es reichte ja schon, dass meine schönen rot-braunen Haare nur noch bis zu meinen Schultern reichten, die ich hochgesteckt hatte, damit ich sie unter einer sehr überzeugenden Echthaarperücke verbergen konnte. Gloria, deren Schwester einen eigenen Friseursalon führte, hatte mir dabei geholfen eine geeignete zu finden, deren Farbe und Beschaffenheit der meines richtigen Haars glich.
    Außerdem musste ich sicher gehen, dass sie mir nicht einfach vom Kopf rutschen konnte, wenn es mal etwas holpriger wurde. Es hatte mich ein kleines Vermögen gekostet, aber das war es alle Male wert. Zumal diese Perücke auch mühelos über Nacht tragen konnte.
    Sonderlich zu schwitzen schien man darin auch nicht. Deshalb war sie perfekt geeignet.
    Um meine langen Wimpern stand es da schon schwieriger. Ich hatte sie sogar ein wenig trimmen müssen, damit nicht auffiel, dass ich ein Mädchen war. Meine Lippen und meine Nase erwiesen sich ebenfalls als fatal, weil sie mich locker verraten hätten. Daran konnte ich leider nicht viel ändern und für eine plastische Schönheits-OP hatte ich weder die Zeit, noch das nötige Kleingeld. Und wie gesagt, ich wollte es ja nicht übertreiben. Schließlich wollte ich irgendwann wieder als Mädchen gehen, sobald ich genug hatte oder ich aufflog. Na ja.
    Bestenfalls hielt man mich wirklich für einen Jungen mit weiblichen Zügen.
    Dafür hatte ich mir mit meiner Kleidung richtig viel Mühe gegeben.
    Die meiste Zeit über würde ich zwar in der Schuluniform herumlaufen, die sich laut Mr. Kaiser bereits in meinem Zimmer befand. Aber einige andere Kleidungsstücke hatte ich trotzdem gebraucht. Egal. Gloria, Kennedy und ich freuten uns über jede sich bietende Gelegenheit, um shoppen zu gehen. Ich hatte absichtlich Farbtöne ausgewählt, die ich eigentlich eher als trist erachtete und die sich in meinem Kleiderschrank eher selten fanden. Mal abgesehen von der Farbe rot, die mir in jedem Geschlecht zu stehen schien.
    Grau, braun, dunkelgrün und einige Teile in rot, wobei ich stark darauf achtete, dass es nicht zu grell wirkte. Meine Haut war ja auch so schon blass genug. Gloria hatte vorgeschlagen, dass ich mir einen falschen Schnurrbart ankleben sollte, worauf ich sie zweifelnd angesehen hatte.
    „Nur wenn ich direkt auffliegen will“, hatte ich matt kommentiert und mich bereits darin geübt möglichst trocken und unbeteiligt zu klingen. Wie ein Junge zu gehen war da wesentlich schwieriger gewesen. Besonders weil ich niemanden kannte, den ich um Rat fragen konnte.
    Deshalb hatte ich einige Passanten in der Stadt beobachtet, was beinahe in einer echten Katastrophe gemündet wäre. Nicht zuletzt weil ich mich fragte, ob manche dieser Kerle vielleicht irgendetwas an ihren Beinen hatten, weil sie echt merkwürdig liefen.
    Ich ließ es besser bleiben und lief möglichst normal. Nicht schwebend, wie Kennedy gerne mal durch die Gegend zockelte, weil sie einmal gemeint hatte die ganze Erde sei wie ein Laufsteg.
    Auf jeden Fall war ich perfekt auf meine kleine Scharade vorbereitet.
    Zumindest ging ich davon aus, nachdem ich mich von Kennedy verabschiedet hatte, die mich schweren Herzens mir selbst überlassen hatte.
    Bereits vor wenigen Tagen hatte ich damit angefangen das Männer-Deo, Duschzeug und das entsprechende Shampoo zu benutzen, damit ich nicht zu sehr wie ein Mädchen roch.
    Mir wurde erstmals klar, wie schwierig es war ein Junge zu sein. Es gab so vieles, auf was man achten musste. Trotzdem machte ich meine Sache gut. Voller Zuversicht stürzte ich mich in dieses kleine große Abenteuer.


    Kaum war Kennedy in Richtung Ausgang stolziert – sie liebte solche Auftritt, deshalb war sie auch so glamourös – ertönte hinter mir ein anerkennender Pfiff.
    Erschrocken wirbelte ich zu einem blonden Jungen herum, der mir zuerst gar nicht aufgefallen war. Ob er uns beobachtet hatte? Ich hoffte mal nicht, dass er etwas von unserem Gespräch verstanden hatte, sonst konnte ich auf der Stelle einpacken.
    Bestimmt handelte es sich bei ihm um einen Schüler. Was auch sonst? Ich bezweifelte, dass er sich unbefugt in diesem Internat aufhielt, das laut Broschüre über einige Alarmanlagen und andere Sicherheitssysteme verfügte, um Eindringlinge fernzuhalten. Für einen Lehrer wirkte er viel zu jung und der Hausmeister war er garantiert auch nicht.
    Außerdem trug er eine der Schuluniform. Das hatte ich ja bestens kombiniert.
    Allerdings schien er auf die eher sperrige, dunkelrote Krawatte verzichtet zu haben, die ebenfalls zu diesem schicken Outfit gehörte. Ob er damit nicht auch gegen die Kleiderordnung verstieß?
    „Nicht schlecht, nicht schlecht“, wiederholte er mit einem honorierendem Kopfnicken.
    Ich rechnete fest damit, dass sein Kopf jeden Moment zu Boden rollte. War er etwa ein Wackeldackel? Ich musste mich nicht unbeeindruckt geben. Er imponierte mir tatsächlich reichlich wenig. Obwohl mir auffiel, dass er anders wirkte als die Jungs an meiner Schule.
    Vielleicht war es die herrschaftliche Ausstrahlung oder das verdächtige Funkeln in seinen grünen Augen. Oder es lag einfach nur schlicht und einfach daran, dass dieses dumme Vorurteil, dass Kinder von Reichen automatisch auch optische Vorzüge in die Wiege gelegt bekamen.
    Aber so oberflächlich wie Gloria, Kennedy und ich uns oftmals gaben waren wir eigentlich überhaupt nicht. Im Kindergarten hatte ich selbst damit zu kämpfen gehabt, dass ich eher unscheinbar gewesen war. Deshalb beäugte ich ihn skeptisch. Ob er versuchen würde mich auf seine Art willkommen zu heißen? Sollte ich mich besser auf die Lauer legen? Ich beschloss dass kein Grund zur Sorge bestand. Bis hierher hatte ich es geschafft, da würde ich nicht darüber stolpern, dass er uns anscheinend beobachtet hatte.
    „War diese heiße Braut gerade etwa deine Freundin?“, erkundigte er sich zweifelnd. Als würde er das für extrem unwahrscheinlich halten. Abschätzig musterte er mich, wobei ich eher den Eindruck gewann, dass er mich für ein Alien hielt. Nicht für ein Mädchen. Vielleicht schloss er einfach aus, dass jemand wie ich männlich sein konnte. Schon gar nicht rechnete er damit, dass ich jemanden wie Kennedy abbekam. Dieses Mädchen war aber auch ein echter Glücksfang!
    Obwohl meine verwaschene Jeans und das karierte Hemd ebenso überzeugend wirkten wie meine kurzen Haare, unter denen ich meine schulterlangen Haare und mein Pony verbarg, weil auch das nicht zu einem Jungen wie mir gepasst hätte.
    Wenn Kennedy noch hier gewesen wäre, hätte sie ihn bestimmt gegen das Schienbein getreten.
    Genauso wie Mike Kline damals, als er einen ähnlichen Spruch abgelassen hatte.
    Gegen fiese Machos, die sich für die Besten hielten, hatten wir nämlich alle drei etwas einzuwenden. „Lasst uns schwören, dass wir niemals einen Typen daten, der sich für Casanova höchstpersönlich hält“, hatte ich damals gefordert, nachdem Kennedy Mike zur Hölle gejagt hatte.
    Ich war echt versucht diesem blonden Charmeur deutlich zu machen, dass ich sehr wohl dazu im Stande war eine Freundin wie Kennedy abzubekommen, aber ich schalt mich rechtzeitig.
    Wenn ich es länger als einen Augenaufschlag lang durchhalten wollte, musste ich bei meiner Story bleiben, ohne auch nur einen Millimeter davon abzuweichen.
    „Diese heiße Braut“, betonte ich deshalb möglichst gehässig, „Ist meine Cousine. Wenn du sie siehst, solltest du also besser einen hohen Bogen um sie machen.“
    Ich wusste nicht, ob es sonderlich klug war gleich der ersten Person zu drohen, der ich begegnete. Und das an meinem allerersten Tag. Doch sein Blick entgleiste nur für den Bruchteil einer Sekunde. Im nächsten Moment grinste er jedoch breit, trat auf mich zu und hob seine Hand, damit ich einschlug. Als ich auf diese absolut lächerliche Geste nicht reagierte, ließ er langsam seine Hand sinken und präsentierte erneut eine Reihe von perfekten weißen Zähnen. Zu perfekt. Entweder es waren nicht seine echten, oder sein Zahnarzt verstand etwas von seinem Handwerk.
    Dass sie mich nicht blendeten, war alles.
    „Ich bin Milton... und für die Neuzugänge zuständig. Kaiser hat mich hergebeten... Dann bist du wohl der Neue aus London“, stellte er sich vor. Ein schlichtes „Ich heiße Milton“ hätte mir allerdings auch genügt. Milton... wer hieß schon Milton? Welche Eltern taten ihrem Kind das bloß an?
    „Skye“, gab ich schlicht zurück. Große Reden zu schwingen lag mir nicht.
    Besonders nicht meinem neuen Ich, das möglichst lässig und authentisch sein musste.
    Also eigentlich fiel es mir schon schwer meinen Mund zu halten – schließlich bin ich ein richtiges Mädchen. Aber das galt nicht für Skye den Jungen, das hatte ich zumindest beschlossen.
    Dieser musste vollkommen cool bleiben, in jeder Lebenslage.
    Erneut wurde ich einer kritischen Musterung unterzogen. Sicherlich fragte Milton sich gerade das Gleiche wie ich zuvor. Mein Name war zwar als geschlechtsneutral bekannt, aber ich konnte mir trotzdem denken, dass er für ordentlichen Gesprächsstoff sorgte, obwohl ich persönlich ihn sehr mochte. Deshalb, und aus vielen anderen Gründen, hatte ich Glorias Vorschlag mich Fritz zu nennen entschieden abgelehnt.
    Wenn ich schon log, dann wenigstens mit Stil. Und es war unwahrscheinlich aufzufliegen, wenn ich den Namen behielt, auf den ich auch tatsächlich reagierte, seitdem ich denken konnte.
    Auf den Kopf gefallen war ich schließlich nicht.


    Mom hatte mir einmal vor einiger Zeit erklärt, dass Aussehen die Welt bestimmen würde.
    Ich glaube damals war ich elf und sie wollte mir damit aufzeigen, welche Vorzüge es hatte weiblich zu sein. Was jedoch nur galt, wenn man auch hübsch war. Das waren übrigens Moms Worte, nicht meine. Sie war immer froh darüber, dass ich mich doch ganz anständig entwickelt habe.
    Woran ich übrigens trotz meines Vorhabens keine Millisekunde zweifelte.
    Jedenfalls spielte Optik eine enorme Rolle, wenn nicht für uns persönlich, dann leider für andere Menschen. Ob es uns passte oder nicht, dem war schon seit jeher so.
    Deshalb hatte man es als hübsches Mädchen auch ziemlich leicht. Türen wurden einem aufgehalten, in mehrfacher Hinsicht, man wurde an der Kasse vorgelassen oder in anderen Schlangen, wie beispielsweise im Kino. Manchmal sogar häufiger als andere.
    Oder man bekam Popcorn oder anderes spendiert. Manchmal war das wirklich praktisch.
    Und obwohl mir das wesentlich seltener passierte als zum Beispiel Gloria, bekam auch ich manchmal einen Cappuccino ausgegeben, wenn wir bei Starbucks saßen, um uns oder eher unsere Füße von einer heftigen Shoppingtour zu erholen.
    Was ich damit ausdrücken möchte: als Junge ist es vollkommen anders.
    Als Junge bekommt man nichts geschenkt.
    Zumindest mir erging es innerhalb meiner ersten fünfzig Minuten als offizielles männliches Wesen, als wäre ich plötzlich unsichtbar oder zumindest unbedeutend für die Menschheit geworden.
    Milton zog es nicht einmal in Erwägung mir anzubieten mir mit meinem schweren Rollkoffer zu helfen. Anders wäre es vielleicht merkwürdig gewesen, wenn er es getan hätte und ich sollte mich besser darauf einstellen, dass sich daran nichts änderte, solange ich mich an diesem Internat befand. Dass es in Zukunft noch unbequemer für mich werden würde. Trotzdem fiel es mir sofort auf.
    Kennedy hatte sofort herauskristallisiert, dass einige Dinge als Junge anders verliefen.
    Natürlich war ich nicht dumm und wusste das selbst ganz genau.
    Trotzdem bekam ich langsam eine Ahnung davon, was sie damit hatte ausdrücken wollen. Worauf ich mich wohl in Zukunft noch alles einstellen musste?
    Milton war trotz allem mit viel Elan dabei, als er mich durch die Fakultät führte.
    Vielleicht erhoffte er sich auch einen Vorteil darauf.
    Immerhin waren die meisten Absolventen dieser Akademie irgendwie bedeutend in die Gesellschaft integriert. Was entweder auf Eigenverdienst beruhte, oder weil sie in ein reiches, gefragtes Elternhaus geboren worden waren. Milton merkte man jedenfalls deutlich an, dass ihm das Glück praktisch in die Wiege gelegt worden war. Zusammen mit einem goldenen Löffel.
    Meine Eltern waren zwar nicht unbedingt bettelarm, aber mit der Ausstattung einer noblen Privatschule konnten wir trotzdem nicht mithalten.
    Allerdings hatte ich mich schon Mithilfe meiner Freundinnen auf das Inventar vorbereitet, das mich an diesem Ort erwartete. Weder die Internetseite, noch das Infomaterial versprachen zu viel.
    Diese Schule ließ sich wirklich nicht lumpen.
    „Die haben sogar einen Billardtisch! Einen Billardtisch! Stellt euch das nur mal vor, Mädels! In ihrer Freizeit spielen diese kleinen Prinzen mal eben Billard!“, hatte Gloria verblüfft und begeistert zugleich hervorgestoßen, sobald sie die entsprechende Seite im Prospekt erreicht hatte.
    Währenddessen hatte ich meine Tasche gepackt. Ein schwieriges Unterfangen, denn ich durfte nur das mitnehmen, was ich wirklich benötigte. Und nichts, das mich versehentlich verraten hätte.
    Wie beispielsweise meinen Schminkkoffer.
    Leider gab es viele Sachen, die ich nicht hatte mitnehmen können. Aber ich musste realistisch bleiben und durfte mich nicht unnötig in verzwickte Situationen manövrieren, in denen meine gut durchdachte Lüge eiskalt auffliegen würde. Das wäre nicht nur dumm gewesen, sondern auch ebenso fatal. Mir blühte nämlich mächtig Ärger sollte das passieren.
    Ich hatte mir sogar eine neue Zahnbürste zugelegt, weil ich bezweifelte, dass irgendein Junge rosafarbene Zahnbürsten benutzte.
    Lediglich einige winzige Freiheiten hatte ich mir herausgenommen. Diese bestanden in meinem Tagebuch mit dem violetten Einband, das ein weises Zitat zierte, ebenso wie rosafarbene Punkte. Und neben den Boxershorts hatte ich noch normale Unterwäsche benötigt. Zu guter Letzt hatte ich mir ein kleines Flakon meines Lieblingsparfums eingepackt. Falls ich Sehnsucht danach bekam ein Mädchen zu sein, was garantiert häufiger passierte, während ich diese Scharade aufrecht erhielt.
    All diese Gegenstände musste ich fürsorglich in meinem neuen Zimmer verstecken, sobald sich eine günstige Gelegenheit dafür bot. So gut, dass nicht einmal mein Zimmergenosse sie finden würde.
    Zunächst einmal galt es jedoch Miltons Führung zu überstehen, was sich als anstrengend und nervenaufreibend erwies.
    Anfangs glaubte ich ja noch er sei einfach sehr engagiert, doch irgendwann wurde ich das dumpfe Gefühl nicht los, dass er beabsichtigte, dass ich mit dem Kopf auf die glänzenden Fliesen mit dem Schachmuster fiel, die so gut wie überall dominierten. Es war schrecklich langweilig, und das war die Untertreibung des Jahrtausends.
    Vor jedem Wandgemälde blieb er stehen, um es zu erklären. Seinen Ursprung, seinen Wert und den künstlerischen Hintergrund. Er tat das mit voller Absicht, wie ich bald schon feststellte.
    Um meine Geduld überzustrapazieren. Das funktionierte sogar.
    Nach außen blieb ich jedoch ganz gelassen. Selbst wenn man beliebt ist, muss man einiges ertragen. Denn dann wurde man ebenso gehasst. Ich hatte viele Neider, die mir leider nur allzu deutlich zeigten, was sie von mir hielten. Meistens bezeichneten sie mich als arrogant, abgehoben und übertrieben. „Dabei ist Skye überhaupt nicht so hübsch, wie alle immer behaupten!“, zählte da noch zu den harmlosen Varianten der Sticheleien, die gegen mich gingen.
    Milton schien Zeit zu schinden. An den bedeutenden Standorten, wie dem Speisesaal oder der Bibliothek, die im Vergleich zu unserer riesig und beeindruckend erschien, hielten wir uns nicht lange auf. Ich kam überhaupt nicht dazu irgendwelche Fragen über die Schule oder ihre Abläufe zu stellen, weil Milton dann seinen Weg fortsetzte.
    Vielleicht lag es daran, dass er mindestens zwei Köpfe größer war als ich und er somit über wesentlich längere Beine verfügte, aber der Bursche war ganz schön flink.
    Außerdem störte es mich gewaltig, dass er mir nicht angeboten hatte zunächst meinen Koffer in mein Zimmer zu bringen, bevor er mich über das weitläufige Gelände führte.
    Auf diese Weise musste ich ihn die ganze Zeit über hinter mir herziehen.
    Dabei fragte ich mich die ganze Zeit über, wo sich die anderen Schüler befanden. Wahrscheinlich noch immer im Unterricht. Immerhin hatte dieser seit heute begonnen. Die Formalitäten hatte es mir leider nicht ermöglicht sofort einzusteigen. Als Milton mich endlich in den Wohntrakt brachte, in dem die Wände mit einer edlen, dunklen Holzvertäfelung verfeinert waren, fühlte ich mich vollkommen ausgelaugt.
    Als hätte ich irgendeinen Leistungssport betrieben. Ich war nicht unbedingt die größte Sportskanone. Das zählte eher zu Kennedys zahlreichen Talenten, die früher einmal Leichtathletik betrieben hatte. Ich aß ja lieber Torten und andere Süßigkeiten. Das war meine liebste Sportart.
    Irgendwann wandte sich Milton jedoch mit fragendem Blick zu mir um.
    „Welche Zimmernummer hast du eigentlich?“, erkundigte er sich nebensächlich bei mir.
    Diese Frage fiel ihm aber reichlich früh ein. Ich schnappte nach Luft und schnaubte und musste erneut ansetzen, um ihm zu antworten. Memo an mich selbst: dringend meine Kondition verbessern.
    Milton meiden, bis sie besser geworden ist. Und bevor ich meine Tasche auspackte musste ich dringend unter die Dusche. Ich war noch keine zwei Stunden ein Kerl und fühlte mich schon wie ein verschwitztes Schwein. „Zweihundertsieben“, verkündete ich ächzend, worauf er überrascht die Stirn kraus zog, als würde er das für einen miesen Scherz halten.
    Aber ich bezweifelte, dass Mr. Kaiser mich belogen hatte. Wieso sollte er auch?
    „Das ist im zweiten Stockwerk“, merkte Milton trocken an und steuerte eine breite Haupttreppe an.
    Nicht das auch noch. Jetzt durfte ich meinen Koffer auch noch diese Treppe nach oben schleppen. Und überhaupt. Diese Raumaufteilung glich eher die eines Hotels als einer Schule.
    Dafür war der Zimmerservice aber ganz schön fragwürdig.
    „Würdest du von hier aus auch allein klarkommen, Skype? Ich habe noch etwas Dringendes in meiner Position als Klassensprecher zu erledigen“, erkundigte sich Milton abgelenkt, der mich offenbar nicht in mein neues Zimmer begleiten wollte. Oder er wollte mich rasch loswerden. Moment... hatte er mich gerade ernsthaft wie eine Computersoftware bezeichnet?
    Andererseits war ich erleichtert darüber, dass er mir nicht auch noch die Hand halten wollte, wenn ich mich meinem neuen Zimmergenossen vorstellte.
    Der einzige Nachteil an dieser Scharade bestand in eben diesem Fakt, denn ich durfte sie nicht einmal mehr ablegen, während ich mich in meinem Zimmer aufhielt.
    Leider waren Einzelzimmer der einzige Luxus, über den dieses Internat nicht verfügte.
    Denn dort musste ich ebenfalls gewaltig auf der Hut sein.
    Ich bereute die Idee mit der Perücke trotzdem nicht, denn darunter befanden sich meine geliebten Haare, die dadurch hoffentlich keinen allzu großen Schaden nehmen würden. Merkwürdig kam mir Miltons mit einem Schlag ablehnendes Verhalten trotzdem vor. Dabei hatte ich geglaubt ich sei ihm zumindest annähernd sympathisch. Vielleicht war das unter Jungs einfach so.
    Mädchen machten sich bestimmt mehr Gedanken darüber, wie sie bei anderen ankamen. Jungs hingegen kamen einfach miteinander zurecht oder eben nicht. Ohne sich etwas vorzulügen. Das war weniger hinterhältig. Denn ich war mir durchaus im Klaren darüber, dass die meisten Mädchen, die meinen Freundinnen und mir an den Fersen klebten uns in Wirklichkeit zutiefst hassten.
    „Klar, kein Thema“, erwiderte ich mit einem möglichst lässigen Lächeln.
    „Wenn du etwas benötigst, dann kannst du jederzeit zu mir kommen. Oder auch wenn es Ärger gibt. Ich wohne in Zimmer zweiunddreißig, also im Erdgeschoss. Deinen Stundenplan für morgen hast du?“, hakte er noch nach, bevor er sich zum Gehen abwandte.
    Als würde ihn die Antwort darauf nicht wirklich interessieren. Komischer Kauz.
    „Den hat Mr. Kaiser mir vorhin ausgehändigt“, bestätigte ich schwungvoll.
    Milton nickte beiläufig, dann verschwand er über den Korridor. Ich machte mich daran meinen Koffer die Treppe nach oben zu hieven.
    Kraft war nicht gerade mein zweiter Vorname, aber dafür Ehrgeiz und Willenskraft.
    Vielleicht waren das die Waffen eines Jungen. Auf jeden Fall war es meine stärksten Eigenschaften, die mich durch diese neue Erfahrung bringen würden.
    Ich war zu allem bereit. Nur nicht zu dem, was mich tatsächlich erwartete.


    ~*~

  • Kapitel 3: Zimmergenossen~


    Nachdem ich den ersten Stock endlich erreicht hatte, wofür ich mich wirklich abmühen musste, befand sich mein Kampfgeist auf seinem Tiefpunkt.
    Aber dann erinnerte ich mich wieder daran, weshalb ich das alles überhaupt machte. Oder wie entgeistert Kennedys und Glorias Gesichtsausdruck aussehen würde, wenn ich ihnen mitteilte, dass ich auch als Junge einfach nur absolut hinreißend war und dass ich von allen geliebt wurde.
    Der aufgehende Stern am Abendhimmel eines reinen Jungeininternats.
    Die würden sich noch umsehen!
    Na ja, so leicht gab ich mich jedenfalls nicht geschlagen. Außerdem war ich eine geborene Optimistin. Bei der derzeitigen Lage meiner Familienverhältnisse musste ich das aber auch sein.
    Als ich endlich vor der schlichten, dunklen Holztür stehen blieb, hinter der sich mein neues Zimmer befand, atmete ich einige Mal tief durch. Puh. Endlich hatte ich es geschafft.
    Wie es wohl von innen aussehen mochte?
    Schließlich war es eine Sache eine Einrichtung auf Fotos zu sehen, aber eine andere sie live und in Farbe zu erleben. Enthusiastisch krempelte ich den Ärmel meines Hemds nach oben, griff nach dem Schlüssel, den Mr. Kaiser mir ausgehändigt hatte und schloss die Tür auf.
    Ich hielt mich gar nicht erst lange damit auf nervös zu sein. So etwas war für Anfänger.
    Mein Zimmergenosse befand sich garantiert noch im Unterricht und würde erst später eintreffen, was mir noch ein bisschen Freiraum verschaffte, um mich auf meine Rolle vorzubereiten.
    Bis dahin blieb mir außerdem etwas Zeit mir alles genau anzusehen.
    Es würde also noch mindestens eine Stunde dauern, bis ich ihn zu Gesicht bekam.
    Davor fürchtete ich mich sowieso nicht. So sehr Gloria auch bemüht war mir Angst einzujagen, indem sie mir eine Horrorgeschichte nach der anderen auftischte.
    „Was wenn dein Mitbewohner pervers ist? Oder noch viel schlimmer? Wenn er der totale Spinner ist, der seine Zimmergenossen immer mobbt und dir den Kopf in die Toilette steckt? Jungs können so widerlich und grausam sein, das sage ich dir“, hatte sie versucht mir diese Sache auszureden, wobei sie sich angeekelt geschüttelt hatte. Klar, dass sie so etwas sagte. Sie wollte ja auch, dass ich verlor. Obwohl für mich wesentlich weniger auf dem Spiel stand als für die beiden.
    Mit dem Straußenkostüm konnte ich noch leben. Es ging hier einzig und allein um meinen Mädchenstolz. Schon verrückt, welche Ironie sich dahinter verbarg, oder?
    Ich appellierte einfach an die Vernunft meines Zimmergenossen. Wenn er eine solche besaß.
    Außerdem waren Mädchen viel, viel schlimmer, wenn sie jemanden verachteten.
    Schade dass Mr. Kaiser keinen Namen erwähnt hatte.
    Sonst hätte ich Milton fragen können, ob er ihn vielleicht kannte. Bei weniger als einhundertfünfzig Schülern war das schließlich kein Ding der Unmöglichkeit, sondern eher wahrscheinlich.
    Nach seiner Reaktion zu urteilen hätte ich jedoch schwören können, dass Milton bereits wusste, mit wem ich für die nächste Zeit zusammenleben musste. Egal... So leicht ließ ich mich nicht abschrecken. Damit konnte ich mich immer noch befassen, sobald es soweit war.

    Erst einmal wollte ich meine Tasche auspacken, mich etwas zurechtfinden und vielleicht noch schnell eine Dusche nehmen. Denn auch wenn man sich wie ein Junge benahm, musste man ja nicht gleich wie einer riechen. Um es mit den Worten der berühmten Disney-Figur Mulan auszudrücken, die ja tatsächlich eine historische Persönlichkeit gewesen war und die als eine Art Vorbild für mein Schauspiel iente.
    Vor dieser Aktion hatte ich mir nämlich sämtliche bekannten Filme und Serien angesehen, in denen sich eine weibliche Hauptfigur als Kerl ausgab. Um mich mental zu rüsten. Die Tatsache, dass die meisten von ihnen erwischt worden waren, ignorierte ich dabei vollkommen. Deshalb wollte ich alles bedenken. Und um noch einmal auf das eigentliche Thema zurückzukommen...
    Das soll jetzt kein Vorurteil sein, aber in der achten Klasse saß ich neben Phil Burning, der immerzu gestunken hatte wie ein totes Warzenschwein. Auf diese Weise wollte ich nicht unbedingt enden.


    Dieses Zimmer war größer als im Prospekt. Viel, viel größer. Darin hätte eine vierköpfige Familie leben können, ohne sich gegenseitig auf die Füße zu treten. Ungelogen.
    Na ja, eine dreiköpfige.
    Wenigstens wusste ich jetzt, weshalb mir das Gebäude von außen so gigantisch erschienen war.
    Wenn alle Zimmer dermaßen geräumig waren erklärte das zumindest einiges.
    War das etwa ein Palast oder ein Bildungsinstitut?
    Und dadurch, dass Gloria praktisch in einer Villa lebte, weil ihre Eltern tatsächlich vermögend waren, war ich bereits einiges gewöhnt. Dieses Zimmer übertraf trotzdem all meine Vorstellungen.
    Daran konnte man sich glatt gewöhnen. Auch die Möbel schienen äußerst erlesen und hochqualitativ zu sein.
    Obwohl sie rustikal gehalten waren, wirkten sie gleichzeitig schick und modern, wenn auch auf eine schlichtere Art und Weise als mein Mädchenzimmer.
    Alle Möbel waren in doppelter Ausführung vorhanden. Betten, Kleiderschränke, Kommoden und Schreibtische. Getrennt wurde der Raum durch eine kleine, cremefarbene Trennwand.
    Und doch wirkte es nicht willkürlich platziert, sondern sehr ordentlich und angemessen.
    Also entweder war der Innenausstatter weiblich oder einfach nur geschickt.
    An den Raum, der mit dunklem Laminat ausgelegt war, grenzte ein Badezimmer mit hellblauen Fliesen. Es wirkte wie das Badeparadies, in dem wir während unseres Urlaubs in der Türkei letztes Jahr gewesen waren. Zu jenem Zeitpunkt hatte es zwischen meinen Eltern bereits gewaltig gekriselt, was garantiert nur mir aufgefallen war. Nino war dafür einfach noch viel zu klein gewesen. Allmählich schien jedoch auch er zu begreifen, dass wir schon lange keine Bilderbuchfamilie mehr waren.
    Na ja, in diesem Internat gab es zwar anders als in der Ferienanlage in der Türkei keinen Swimmingpool, aber die Dusche war auf jeden Fall riesig.
    Alles glänzte sauber und es gab auch frische Handtücher.
    Wobei mir unweigerlich der Gedanke kam, dass es sicherlich mehrere Personen benötigte, um allein diese Sanitäranlagen sauber zu halten. Natürlich versuchte ich auch sofort anhand der vorhanden Gegenstände auszumachen, was für eine Person mein neuer Mitbewohner wohl sein mochte.
    Dabei schoss mir immer wieder durch den Kopf, dass die Hauptsache war, dass es sich um eine nette, freundliche, umgängliche Person handelte. Ja, ich benutzte absichtlich viele Adjektive!
    Dass wir gut miteinander zurechtkommen würden. Nein, eigentlich war das Wichtigste, dass er sich leicht an der Nase herumführen ließ. Dass er mir diese Lüge ebenso abkaufte wie Mr. Kaiser und Milton es bereits getan hatten. Was übrigens auch für meine neuen Mitschüler galt, die ich morgen kennenlernen würde.

    Obwohl ich mir diesen Schlamassel ja selbst zuzuschreiben hatte.
    Jedenfalls erwies sich dieses Unterfangen als nahezu unmöglich. Man erkannte zwar anhand einiger Bücher auf dem Schreibtisch und einigen anderen Gegenstände, welche Seite des Zimmers er nutzte, nämlich die rechte, aber von persönlichen Gegenständen wie Fotos, fehlte jegliche Spur. Dafür nahm ich eines der Bücher zur Hand. Ein Gedichtband aus dem neunzehnten Jahrhundert, sowie ein Lateinwörterbuch. Allem Anschein nach war er also äußerst gebildet. Oder er versuchte zumindest genau diesen Eindruck zu erwecken.
    Bevor ich mich daran begab meinen Koffer auszupacken, wollte ich unter die Dusche gehen.
    Meine Tasche stellte ich neben dem frisch bezogenen Bett ab, auf dem eine grüne Bettdecke lag, die zum Rest der Einrichtung passte. Hier schien wirklich alles harmonisch aufeinander abgestimmt zu sein. Und obwohl ich mein mädchenhaftes Zimmer mit der süßen Dekoration schon jetzt schrecklich vermisste, konnte man sich hier durchaus wohlfühlen. Es war jedenfalls auszuhalten.
    Ich ging zu dem beinahe leeren Kleiderschrank, in dem nur drei Sätze Schuluniformen für mich parat hingen – deshalb hatte ich meine Kleidergröße bei der Anmeldung angeben müssen – und nahm eine davon heraus. Dann verschwand ich im Badezimmer, schloss die Tür ab und begann mich meiner Kleidung zu entledigen. Natürlich hatte ich nicht vor mit Perücke zu duschen.
    Da es jedoch einen Föhn gab, konnte ich erleichtert ausatmen. Es wäre sicherlich nicht gesund mit nassen Haaren unter der Perücke durch die Gegend zu laufen.
    Außerdem hatte ich so eine Erklärung dafür parat, weshalb ich das Badezimmer immer mit trockenen Haaren verließ. Für später, wenn ich bereits eine geraume Zeit hier lebte.
    Mir schienen diese glücklichen Zufälle beinahe zuzufallen. Als würde man sie mir zuspielen wie einen Spielball. Was sich leider schon sehr bald ändern sollte. Denn was ich nicht wusste war, dass ich absolut nicht dafür gemacht war diese Lüge zu leben. Eigentlich fand ich selbst erst heraus, welche Katastrophe ich darstellte.


    Die Schuluniform war mir mindestens eine Nummer zu groß. Dabei handelte es sich bereits um die kleinste Größe. Na ja, in der Regel waren Jungs eben meistens etwas stämmiger gebaut als Frauen.
    Mit einem Gürtel würde es wenigstens einigermaßen gehen und ich musste keine Angst haben, dass mir versehentlich die Hose runterrutschte, während ich durch die Schule lief.
    An meinen dünnen, ebenmäßigen Beinen hätte man unter Umständen sofort erkannte, dass ich anatomisch, und auch sonst, sehr weiblich war.
    Ach, was machte ich mir vor - in diesem Fall hätte ich direkt eine Leuchtreklame mit Neonlichtern aushängen können. Am besten in rosa.
    Bislang wusste ich lediglich, dass die strikten Regeln der Fakultät die Besuche von Mädchen verboten. Dann galt das bestimmt auch für welche, die sich heimlich durch das Raster zu mogeln versuchten und sich als Junge ausgaben, nur um eine lächerliche Wette zu gewinnen und eine Institution zu besuchen, die von Knaben nur so wimmelte. Meine Freundinnen und ich waren schon extrem verrückt. Allerdings wusste ich nicht welche Strafe darauf stand.
    Vielleicht hätte ich nackt über den Kampus rennen müssen. Obwohl ich bezweifelte, dass der konservative Mr. Kaiser eine solche Form der Bestrafung überhaupt zulassen würde.
    Ich wollte es nicht unbedingt darauf ankommen lassen es herauszufinden.
    Nein. Ich würde diese Scharade eine Zeit lang aufrecht erhalten und konnte jederzeit wieder die Schule wechseln, wenn mir danach war. Damit versuchte ich mich zu beruhigen.
    Unser Haus war ja nicht allzu weit entfernt und auch Kennedy und Gloria waren nur einen Telefonanruf von mir weg.
    Immer wieder redete ich mir das ein. Danach fühlte ich mich gleich viel besser.
    Bestimmt hatte ich einfach bloß ein bisschen Heimweh, was nur natürlich war.
    Ein Internat besuchte ich ja zum ersten Mal in meinem Leben, und dann auch noch eines für Jungs.
    Nachdem ich noch einmal mein Spiegelbild überprüft hatte, denn ich durfte keine Sekunde lang nachlässig sein, was mein Aussehen betraf, schließlich wusste man nie, trat ich aus dem Badezimmer. Und hätte beinahe einen Schreckensschrei ausgestoßen.
    Weder hatte ich gehört, wie jemand das Zimmer betreten hatte, noch hätte ich damit gerechnet mich gleich meinem Zimmergenossen zu stellen, der auf dem Schreibtischstuhl saß und elegant seine Beine übereinandergeschlagen hatte. Sobald er mich bemerkte, blickte er wie beiläufig von seiner Lektüre auf. Ich war nur dankbar, dass ich nicht geschrien hatte.
    Denn nur zu eurer Information; ich kreische wie ein Mädchen, weil ich ja eines bin.
    „Du musst der neue Schüler aus London sein“, stellte er schlicht und einfach fest.
    Wäre ich jetzt Kennedy gewesen, oder eher wäre sie an meiner Stelle gewesen, hätte sie spätestens jetzt hysterisch gekreischt. Denn trotz der viereckigen Brille ohne Rand, die er auf den CD-Covern nicht trug, erkannte ich den Jungen sofort, mit dem ich mir für die nächsten Monate das Zimmer Schrägstrich Badezimmer teilte. Was für ein gewaltiger Zufall aber auch.
    Mein Mitbewohner war also niemand geringeres als Jun Taro, der talentierte Pianist und Kennedys Definition eines Traumprinzen, sowie Glorias Antidot für Begeisterung.
    Mich machte sein Anblick allerdings eher sprachlos.
    Wer hätte auch damit rechnen können? Schließlich war mein Leben zwar manchmal wie aus einem Bilderbuch, aber es war kein kitschiger Roman, in dem immer alles wie am Schnürchen lief.
    Und das würde es auch nicht werden.


    Es musste ganz schön dämlich aussehen wie ich dastand, in der Schuluniform, die an mir eher wie ein Kartoffelsack wirkte, in der Hand ein nasses Handtuch. Weshalb hatte ich es eigentlich nicht im Badezimmer über der Heizung aufgehangen? Warum brachte ich es mit ins Zimmer?
    „Ehm“, war das Einzige, was ich in jenem Moment hervorbracht hatte.
    Nicht sehr geistreich oder beeindruckend. Ich erwähnte bereits, dass ich ein Problem im Umgang mit dem anderen Geschlecht habe? Kennedy bezeichnet das als klassisches Jungfrau-in-Nöten-Syndrom. Es hatte Ewigkeiten gedauert, bis ich mal dahinter gestiegen war, was das bedeuten sollte. Eigentlich wusste ich es erst, nachdem sie es mir erklärt hatte.
    „Na in romantischen Filmen wird die schöne Maid doch immer vom strahlenden Helden gerettet und stellt sich dämlich an, was er total niedlich findet...“, hatte sie mit einem listigen Funkeln in den Augen erklärt. Ich fand eher, dass das zu jedem beliebigem Teenie-Film passte. Aber was wusste ich schon? Ich hatte mich damals in eine Zeichentrickfigur verliebt, nachdem ich zum ersten Mal „Dornröschen“ gesehen hatte. Die Disney-Version. Ja, lächerlich, ich weiß.
    Aber der Prinz war mir damals einfach viel zu perfekt erschienen, um nicht für ihn zu schwärmen. Deshalb war er auch meine erste große Liebe, was schon unglaublich erbärmlich ist, wenn man es mal genauer betrachtet. Jetzt wisst ihr auch, wieso Kennedy und Gloria sich dermaßen über diese Wette lustig gemacht haben.

    Vielleicht stand in jenem Moment auch mein Mund offen. Irgendwie schien ich an einer akuten Mundsperre zu leiden. Aber ich wusste einfach nicht, wie ich auf diese Information reagieren sollte.
    Bei jedem anderen Mitbewohner hätte ich kein vorgefertigtes Bild im Kopf gehabt und auch bei Jun war das schwer zu beurteilen. Sein Charakter wurde in den Medien nicht sonderlich hervorgehoben, da er zu den Prominenten zählte, die ihr Privatleben von der Öffentlichkeit fernhielten.
    Deshalb konnte ich mir auch nicht annähernd vorstellen, über welche Persönlichkeit er verfügte.
    Wenigstens soweit es möglich war. Was ihm umso geheimnisvoller machte und zu einem Zielobjekt für sämtliche verrückte, kleine Mädchen, die ihn anhimmelten wie verrückt.
    Da war es nicht weiter verwunderlich, dass er bei ihnen eine Massenhysterie auslöste.
    In irgendeiner seriösen Zeitschrift hatte ich allerdings mal gelesen, dass er über eine eher umgängliche Persönlichkeit verfügte. Blieb nur zu hoffen, dass es stimmte. Und dass nicht das zutraf, was ich in der Klatschpresse geschrieben worden war.
    Es kursierten nämlich auch wilde Gerüchte darüber, wie arrogant und herablassend er war.
    So gar nicht wie der „ausgeglichene Pianist, der eine Ruhe und Harmonie ausstrahlt, wie er sich zumindest auf der Bühne gibt“, wie eine Internetseite berichtet hatte.
    Deshalb sollte man nichts auf Gerüchte geben. Obwohl irgendjemand behauptet hatte, er hätte seine n Assistenten gefeuert, weil dieser vergessen hatte sein Wasser mit einer Zitrone zu verfeinern. All diese Gedanken schossen mir im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf.
    Dann gelang es mir endlich meinen Mund zu schließen.
    „Steiles Zimmer. Yo“, war das erste, was ich hervorbrachte. Am liebsten hätte ich mir für diesen dämlichen Kommentar auf die Zunge gebissen. So viel Blödheit war ja unerträglich.
    Da wollte ich etwas Sinnvolles sagen und klang wie irgendein Möchtegern-Cooler.
    Was definitiv nicht zu meinem Aussehen passte, das Gloria so galant als „Waschlappen“ beschrieben hatte. „Zugegeben, ein schöner Waschlappen... Aber bevor du jetzt grinst wie ein Honigkuchenpferd, Jungs sind in der Regel nicht schön. Also freu dich ja nicht zu früh, Skylar“, hatte sie voller Schadenfreude ergänzt. Ja, ich wusste doch, was für einen jämmerlichen Anblick ich bot. Und jetzt hatte ich auch noch einen vollkommen falschen Eindruck vermittelt, indem ich mich wie ein Vollpfosten benahm. Gratulation, Skye, Gratulation!
    Der erste Preis für die schlechteste Darstellung eines männlichen Wesens ging an... mich.
    Und das vor dem Jungen, mit dem ich mir in den nächsten Monaten ein Zimmer teilen musste.
    Gut, ich wollte ihn ja nicht gleich heiraten.
    Trotzdem war das echt peinlich. Dabei war es mir enorm wichtig, dass es irgendwie funktionierte und wir uns nicht gleich gegenseitig die Köpfe abrissen.
    Alles stand und fiel mit dem Eindruck, den ich auf ihn erweckte.
    Weil Jun womöglich die größte Gefahr im Bezug auf meine Tarnung darstellte, da wir uns ja häufiger sahen. Endlich erlöste er mich aus meinen Befürchtungen, indem er mich freundlich anlächelte und sein Buch zur Seite legte. Jun Taro lächelte mich an und ich musste Kennedy recht geben. Live und in Farbe wirkte er sogar noch wesentlich beeindruckender als auf irgendwelchen Fotos, wenngleich auch nicht allzu fern. Als normal hätte ich ihn auch nicht unbedingt bezeichnet, obwohl er eine schwarze Sporthose und einen dunkelblauen Pullover trug. Anscheinend hatte er sich umgezogen, nachdem er das Zimmer betreten hatte. Logisch... die Schuluniform war schließlich eine Art Pflichtübung. Nur eben, dass sie extrem unbequem war.
    „Wie ist dein Name?“, erkundigte er sich freundlich.
    Ein echter Stein fiel mir vom Herzen. Er schien mich zu mögen. Das war ja wirklich leichter als ich dachte. Wenn es so weiter ging, würde ich es tatsächlich schaffen dauerhaft als Junge durchzugehen. Diese Wette gehörte so etwas von mir. Paris - ich komme! Trotz all der enttäuschenden Erlebnisse innerhalb der vergangenen Monate. Verdient hatte ich es mir alle Male.

    „Skye“, antwortete ich ihm lächelnd, weil ich nicht unhöflich sein wollte.
    Jun nickte und lächelte ebenfalls, dann erhob er sich galant von seinem Stuhl.
    Er schien ja wirklich ganz nett zu sein. Und so am Boden geblieben. Ich wusste überhaupt nicht, was Gloria gegen ihn hatte. Obwohl er in Wirklichkeit viel größer war – das hatte ich beinahe vergessen.
    „Gut, Skye“, betonte er merkwürdig vergnügt, „Komm mir nicht in die Quere und dann ist alles in bester Ordnung. Haben wir uns verstanden?“
    Jun lächelte immer noch breit. Doch mit einem Mal wurde mir klar, dass etwas mit diesem Blick nicht stimmte. Von oben bis unten musterte ich den gut gebauten und gleichzeitig schlanken Jun, dessen braune Haare etwas heller wirkten als auf den Fotos. Vor allem weil sie im Licht Bronze schimmerten. Seine freundlichen, mandelförmigen braunen Augen erkannte man trotz der Brille, weil sie so ausdrucksstark waren. Alles an ihm schien zu strahlen wie eine grelle Sonne.
    Und doch schwang in seinen Worten eine deutliche Warnung mit, die nicht zu verkennen war.
    Vielleicht war das doch nicht so grandios gelaufen. Aber für den Anfang wolle ich es mir nicht mit ihm verderben. „Ich weiß nicht, was du damit meinst“, gab ich ein wenig ratlos zurück, bemühte mich jedoch nicht unfreundlich oder verkrampft zu klingen. Normalerweise fiel es mir schwer mein Temperament zu zügeln. Besonders wenn jemand versuchte mir irgendwelche Vorschriften zu machen oder mich zu beurteilen, obwohl er mich überhaupt nicht kannte, so wie Jun es gerade offenbar tat. Ich neigte dazu überspitzt zu reagieren, wenn man mich bedrohte.
    Damit konnte ich noch weniger umgehen als mit Kritik.
    Jun machte eine wegwerfende Handbewegung, doch sein Lächeln gefror keine Sekunde lang. Das musste man ihm echt lassen. Wenn er genervt von mir und meiner Art war, merkte man es ihm absolut nicht an.
    Eigentlich war diese freundliche Maske sogar recht beängstigend. Bei ihm würde man also niemals mit Sicherheit sagen können, was wirklich in ihm vorging.
    Dieses Lächeln... es stand im starken Gegensatz zu seinen nächsten Worten, die mir deutlich vor Augen führten, dass dies keinesfalls ein Spaziergang werden würde.
    „Eigentlich teile ich mein Zimmer mit niemandem. Wenn du also nicht möchtest, dass ich dich auf meine Art loswerde, solltest du besser dafür sorgen, dass ich deine Anwesenheit nicht bemerke... Ist das verständlicher?“, setzte er in einem fröhlich Plauderton hinzu, als würde er mir gerade mitteilen, dass er sich darauf freute mich als Zimmergenosse zu haben.
    Stumm nickte ich. Deutlicher ging es nicht mehr. Obwohl ich mich ernsthaft fragte, was er mit dem Loswerden meinte. Ob er wohl wortwörtlich irgendwelche Leichen im Keller hatte? Bevor ich diese Frage jedoch stellen konnte, trat er ohne mich weiter zu beachten an mir vorbei und verschwand im Badezimmer, aus dem ich zuvor getreten war. Glücklicherweise hatte ich dort keine kompromittierende Beweise zurückgelassen. Allmählich schwand mir wirklich der Mut. Dabei hatte es so gut begonnen und ich hatte es als Glück erachtet mir ein Zimmer mit dem bekannten Jun zu teilen, der immerzu sanft und harmlos wirkte, wenn er am Klavier saß.
    Harmlos war Jun Taro keinesfalls. Viel eher war er der Nagel zu meinem Sarg.
    Aber das ahnte ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht. Nicht einmal mehr annähernd.
    Sonst hätte ich womöglich augenblicklich die Flucht ergriffen, als ich ihn erblickt hatte.


    ~*~