Kapitel 5: Dylan
Klick. Ein sprödes, fast schon hässliches Geräusch durchschnitt die Stille der Finsternis. Abgesehen davon war die Nacht bis jetzt ausgesprochen ruhig, was mich jedoch nicht unbedingt beruhigte. Normalerweise war immer irgendein Geräusch zu vernehmen, die Stimmen meiner Mitläufer, das Geklapper von Geschirr, ein entferntes Zombie-Heulen, irgendwas, sei es auch nur das Pfeifen eines Windstoßes. Doch jetzt war nichts zu hören, so sehr ich mich auch anstrengte. Es war sowieso schon eine krasse Umstellung. Bis vor wenigen Wochen war ich noch ein berühmter und erfolgreicher Schauspieler, Sympathieträger der Nation, ein gefeierter Star. Mein Tagesablauf vollgestopft mit Drehsets, Fotoshootings und Buzzfeed-Interviews. Es hatte den Anschein gemacht, als drehe sich die Welt alleine um mich, und es war um mich herum immer laut gewesen. Das alles war nun nichts mehr wert. Nun war ich mit fünf Leuten unterwegs und kämpfte mit ihnen ums Überleben, drei von ihnen habe ich bis vor kurzer Zeit noch nie gesehen. Abgesehen von den anderen fünf Spinnern, auf die wir vor wenigen Tagen getroffen sind, habe ich seit Wochen keinen anderen Menschen mehr gesehen. Zumindest keine, die wirklich lebendig waren.
Alleine das machte mir zu schaffen. Mein Leben, wie ich es gekannt hatte, wurde durch die neue Situation regelrecht auf den Kopf gestellt. Doch hier, als ich nun nachts alleine auf der Bank vor einer Tankstelle, mitten in der nordamerikanischen Wüste saß, mit einer Schrotflinte in der Hand und Arktismütze auf dem Kopf, fühlte ich mich wie der einsamste Mensch der Welt.
Ein weiterer Klick ertönte. Gott, wie ich Schusswaffen hasste. Mir wurde unwohl, wenn ich nur schon daran dachte, aber mit einer in den Fingern fing ich regelrecht zu zittern an. Doch es war meine Pflicht, Nachtwache zu stehen, und die wenigen Menschen, die mir geblieben sind, zu beschützen. Ich konzentrierte mich, so gut es mit meiner Angespanntheit ging, darauf, die Schrotpatronen in die Repetierflinte einzuführen. Einmal, zweimal, drei-, vier-, fünfmal. Fünf Patronen nahmen Platz im Magazin, ehe ich den Vorderschaft wieder nach vorne bewegte, um die Waffe einsatzbereit zu machen. Ich würde mir zwar lieber einen rostigen Nagel ins Auge rammen, anstatt sie zu benutzen, aber was solls. Nachdem der Ladungsvorgang abgeschlossen war, setzte wieder die unerträgliche Stille ein, die sich wie eine erbarmungslose Dornenranke um meinen Hals krallte, und mir die Luft abschnitt. Um diesem langsamen, aber sicheren Zerfall in den Wahnsinn zu entkommen, begann ich, vor mich hin zu summen. Beim besten Willen konnte ich mich nicht daran erinnern, wann ich dies das letzte Mal getan haben sollte. Ich gab “Bad Boy” von Red Velvet, den Soundtrack von Maze Runner und “Let It Go” zum Besten, und während ich so vor mich hin summte, begann ich mich zu beruhigen.
Klick. Schon wieder ein Geräusch, dass die paralysierende Ruhe durchbrach. Ich öffnete ruckartig die Augen und schreckte hoch. Panik durchflutete meinen Körper, als ich realisierte, wie fatal dieser Fehler sein könnte. Ich stürmte zum Fenster rechts von der Eingangstüre, zückte hektisch die Taschenlampe und zündete durch die staubige Glasscheibe auf die schlafenden Körper im Innern der Tankstelle. Beruhigt stellte ich fest, dass nichts passiert war, und leuchtete die Lampe nun mehr aus Neugier in die dunkle Ferne. Wie lange hatte ich geschlafen? Da ich keine Uhr auf mir hatte, vermochte ich diese Frage nicht zu beantworten. Es konnte jedoch nicht sonderlich lange gewesen sein, da es noch immer stockfinster war. Plötzlich wurde ich unsanft aus meinen Gedanken gerissen, als ich bemerkte, dass die Stille schon seit meinem Aufwachen durch ein Knistern gestört wurde. Dies war mir jedoch erst aufgefallen, nachdem sich mein Adrenalinspiegel wieder gesenkt hatte. Auf den Ort der Tonquelle zusteuernd, schritt ich zurück zur Sitzbank auf der linken Seite, und lokalisierte das Funkgerät auf der Sitzfläche, das Chastity und ich in diesem verlassenen Kaufhaus gefunden haben. Das immerwährende Rauschen, das vom Gerät aus ging, wurde ab und an durch das knackende Geräusch, von dem ich geweckt wurde, unterbrochen. Für bestimmt fünf Minuten starrte ich das kalte, metallene Gehäuse in meiner Hand an, in der schieren Hoffnung, es würde sich wieder jemand melden. Zwecklos. Hatte ich mir schon gedacht. Gerade, als ich das Funkgerät frustriert halb weglegen, halb wegschmeißen wollte, ertönte ein Laut, den ich noch nie wahrgenommen hatte. Es klang, unterlegt mit dem Rauschen, wie eine verzerrte Aufnahme des Motors eines Autos... oder dem Brummen von Insekten... oder etwa... kann es sein? Eine menschliche Stimme? Ich lauschte gespannt dem Wirrwarr von Geknister und Rauschen, und glaubte, den Klang des Menschen immer deutlicher wahrzunehmen. Die Ohren spitzend, konnte ich nun zuerst einzelne Silben, dann Wörter, schliesslich ganze Sätze raushören. Die Stimme wiederholte immer wieder denselben Satz: “Die Hoffnung ist erstarkt, der Widerstand ist real”
Plötzlich brach das Signal abrupt ab. Ungläubig starrte ich das Funkgerät an, und konnte nicht fassen, was sich gerade vor meinen Augen abgespielt hatte. Den Rest meiner Wachschicht rutsche ich nervös auf der Bank hin und her, abwechslungsweise zum wieder verstummten Funkgerät und zur nun langsam aufgehenden Sonne blickend. Was hatte das zu bedeuten? Wer hatte diese kryptische Nachricht verschickt? Und, vor allem, wo waren diese Menschen nun? Mir schwirrte der Kopf. Ich konnte es kaum erwarten, den anderen davon zu erzählen.
Kurz vor Sonnenaufgang wurde ich endlich von Channing erlöst, der die letzte Nachtwache zu halten hatte. "Soweit ohne Vorkommnisse?", brummte er mir entgegen. Ich erstarrte. Sollte ich ihm etwa von dem mysteriösen Funkspruch erzählen? Nach einem kurzen Augenblick, der sich wie eine halbe Ewigkeit angefühlt hatte, schüttelte ich den Kopf und den Gedanken ab. "Natürlich, hehe, alles bestens." Es kam nicht mehr als ein heiseres Krächzen aus meinem Mund. Mein Kollege mit der mächtigen Statur sagte nichts mehr, während er auf der Bank Platz nahm. Auch, als ich ihm die verhasste Schrotflinte daneben gelegt hatte, nickte er mir schlicht kurz zu, nur um dann wieder unentwegt vor sich hin zu starren. Ich entschied, es dabei zu belassen, und ging ins Innere des Ladens zum Schlafplatz, wo die anderen seelig schliefen. Mir fiel dabei auf, dass sich Tyler und Akira ziemlich eng aneinander gekuschelt hatten. Zu eng, als dass es willkürlich im Schlaf hätte passieren können. Da ich zu müde war, um noch länger über etwas nachzudenken, legte ich mich auf den von Channing vorgewärmten Platz auf einer dünnen Decke, wo ich fast sofort in einen unruhigen Schlummer fiel.
Zwei oder drei Stunden Schlaf konnte ich mir gönnen, ehe ich vom regem Treiben meiner Kameraden gestört wurde. Ich rieb mir verschlafen die Augen, und fühlte mich genau so müde wie zuvor, mit dem kleinen Unterschied, dass ich nun frustriert war, zu wissen, dass die nächste Schlafgelegenheit noch etliche Stunden entfernt war. Was solls. Ich rappelte mich hoch, und fand mich im Geschäftsraum der alten Tankstelle wieder. Die anderen waren schon aufgestanden, nur Channing, der nach mir Wache hatte, schlief noch seelenruhig. Der Glückliche. Ich entschied, ihm die Ruhe zu gönnen, schlurfte aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter mir sachte. Ich musste unbedingt mit jemandem über letzte Nacht sprechen, aber mit wem? Mein Blick wanderte durch den heruntergekommenen, staubigen Raum.
Channing schlief ja noch. Tyler und Akira waren mit sich selbst beschäftigt, wobei sie kichernd irgendwelche Kisten und Decken durch die Türe nach draussen schleppten. Durch ein verschmutztes Fenster konnte ich die fünf Knallköpfe von Hollywood Undead bei der Zapfsäule erkennen, welche ganz offensichtlich keine Meister des gelungenen ersten Eindrucks waren. Mit diesen wollte ich ganz sicher nicht reden, vor allem nicht über so etwas Brisantes. So ganz vermochte ich ihnen einfach nicht über den Weg trauen. Ich drehte mich um und schritt durch die Verkaufsregale, inmitten von aufgereihten Instant Ramen-Packungen und Eismaschinen in den hinteren Teil des Geschäfts, wo ich mich erneut umsah. Von Evolet weit und breit keine Spur. Blieb also nur noch Chastity. Die Rothaarige kauerte am Boden und sammelte fleissig Konservendosen aus der untersten Reihe zusammen. Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass wir ja am Abend bevor beschlossen hatten, aufzubrechen, um einen sichereren Ort zu finden. Es hatte es zwar niemand ausgesprochen, aber insgeheim keimte in jedem von uns auch die Hoffnung, die Quelle des Funkspruchs zu lokalisieren. Chastity war so mit dem Plündern des Regals beschäftigt, dass sie mich wohl nicht bemerkt hatte. Ich räusperte mich und versuchte, meine Unsicherheit zu überspielen.
"Guten Morgen, Madame", sagte ich in einem überspitzten Ton, während ich lässig mit dem Arm an die Wand anlehnte und Chas angrinste. Diese zuckte kurz zusammen, wirbelte herum und schoss in die Höhe, wo sie mich mit grossen Augen ansah. "D-dylan?" - "Nein, Morgan Freeman" entgegnete ich und rollte demonstrativ mit den Augen, konnte mir jedoch ein hämisches Kichern nicht verkneifen. Der Rotschopf wirkte leicht genervt, auch wenn ich glaubte, eine Spur von Belustigung in ihren leuchtenden, grünen Augen erkennen zu können. "Sehr witzig, du Scherzkeks." Sie beruhigte sich ein wenig. "Was willst du?" Mein Blick wurde wieder ernst und ich entsinnte mich, weshalb ich überhaupt hergekommen war. "Hör mal, weisst du noch das Funkgerät, das wir im Kaufhaus entdeckt und mitgeschleppt haben?" Ihre schönen Rehaugen wurden noch grösser "J-ja? Was ist damit?" Ich blickte sie jetzt dringlich an. "Es ist letzte Nacht, als ich Wache stand, wieder angesprungen, zuerst ein Knistern und Rauschen, und dann war da dieser Typ der immer wieder das Gleiche geschwafelt hat: 'Die Hoffnung ist stark, der Widerstand real' oder so ähnlich. Das hat der immer und immer wieder wiederholt, und plötzlich brach das Signal ab, und ich weiss nicht was es zu bedeuten hat." Ich kam kaum noch aus dem Schwafeln raus, so aufgeregt war ich. Dieses mal war es Chas, die mich beruhigte. "Okay, ganz ruhig, lass uns erst mal zu den andern gehen, wir fahren eh bald ab. Hast du noch irgendetwas anderes gehört?" Ich schüttelte eifrig den Kopf, und sie hob wieder an: "Es klingt nicht so, als ob wir dadurch grossartig etwas über den Standort erfahren. Wir können es unseren Freunden erzählen, aber ich glaube nicht, dass es uns weiterhilft." Etwas leiser fügte sie hinzu: "Trotzdem danke, dass du es mir gesagt hast." Ich nickte. Um dem nun eintretenden, peinlichen Schweigen zu entkommen, bückte ich mich, um ein paar von den Büchsen vom Boden aufzulesen.
Gemeinsam trugen wir sie aus dem Laden, um sie in unseren CJ 5 Jeep zu räumen. Ein verschlafener Channing begrüsste uns, als wir bei den parkenden Wagen ankamen, die Turteltäubchen Tyler und Akira waren gerade bei, ihren Tahoe mit den Decken zu beladen, und auch Evolet war inzwischen aufgetaucht. Nach einer kurzen Besprechung beschlossen wir, in die gleiche Richtung zu fahren, wie die Sonne wanderte, um möglichst lange Tageslicht zu haben. Die Bandmitglieder waren bereits startklar in ihrem VW Bus, und man hörte Gelächter nach aussen dringen. Ich drehte mich zu Tyler: "Diese Typen kommen doch nicht etwa mit uns mit, oder?" Dieser erwiderte: "Ich fürchte schon." Genervt schlug ich die Hände vor dem Gesicht zusammen, während mir mein Schauspielkollege auf die Schulter klopfte. "Glaub mir, Dylan, ich will das genauso wenig wie du. Immerhin hätten mir diese Vögel eine Kugel in den Kopf geknallt. Aber Evolet kann wohl einfach nicht nein sagen." Ohne eine Antwort warf ich mich resigniert auf den Fahrersitz des Jeeps, wo Chastity bereits auf mich wartete. Sie schenkte mir ein kurzes Lächeln, was auf mich wie ein Sonnenstrahl, der durch die verhangene Wolkendecke bricht, wirkte. Mit laufendem Motor warteten wir darauf, bis Tyler, Akira, Channing und Evolet ebenfalls startklar waren. Als Tyler mir ein Zeichen gab, trat ich den Fuss volle Kanne aufs Gaspedal, sodass wir mit quietschenden Reifen davonrasten, die anderen beiden Fahrzeuge hinterher. So fuhren wir nun zu elft, eine Gruppe, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnte, hinaus in die Wüste. Hinaus mit dem Wissen, allen möglichen Gefahren in die Arme fallen zu können. Hinaus ins Ungewisse. Hinaus in die Rettung, oder in den Tod.