Da ich noch nicht fertig damit bin, meine Enttäuschung über Die Braut des Magiers zu äußern und das Loblied für March comes in like a lion zu singen, schreibe ich diesen Artikel, in dem ich die beiden Titel direkt miteinander vergleichen will. Das bietet sich an, weil die beiden Serien einige Ähnlichkeiten in Genre, Stimmung und Thematik haben.
Genre und Prämisse
Fangen wir mit dem Genre an. An dieser Stelle muss ich erstmal zugeben, dass ich absolut kein Experte bin, weder was Dramen, noch was Slice-of-Life-Serien angeht. Ich bin ein Shonen-Typ. Ich mag explosive Action; laute, farbenfrohe Gestaltung; lustige Witze und gerne auch eine gute Portion Sex-Appeal. Aber im Laufe der letzten zwei Jahre habe ich versucht mal ein bisschen über meinen Tellerrand hinaus zu schauen und auch andere Genres zu erforschen. An dieser Stelle kommen die Prämissen der beiden Serien ins Spiel, denn die sind es, die mich, sowie die meisten anderen Leute, überhaupt erst dazu bewegt haben, den Serien eine Chance zu geben. Die Prämisse ist zweifelsohne der größte Vorteil den Magus' Bride gegenüber 3-gatsu no lion hat, und der Hauptgrund warum Ersteres so viel populärer ist als Letzteres. "Ein trauriger Junge spielt Shogi und muss mit Gefühlen umgehen" ist einfach nicht annähernd so inspirierend wie "Ein trauriges Mädchen verkauft sich selbst in die Sklaverei an einen Magier mit einem gehörnten Totenschädel als Kopf, der sie zur Braut nehmen will". WTF?! Das sind so viele interessante Ideen in einem Satz, da ist für jeden etwas dabei. Kein Wunder also, dass ich bei Magus' Bride sofort an Bord war, während ich mir bei 3-gatsu drei mal überlegt habe, ob ich da reinschauen will. Dass Studio Shaft für 3-gatsu verantwortlich ist, war letztlich ein wichtiger Grund, der mich überzeugt hat, es doch zu tun.
Auch wenn Magus' Bride Fantasy-Abenteuer verspricht, sind beide Serien im Kern Dramen, die sich um die emotionalen Probleme ihrer Hauptcharaktere drehen und dabei weitestgehend einen zentralen Handlungsfaden vermeiden (Slice-of-Life-Format). Wichtig, um den Erfolg der Serien zu messen, ist es also, die Hauptcharaktere und ihre Traumata zu verstehen.
Die Protagonisten
Chise und Rei haben einiges gemeinsam. Sie sind beide Waisen, die noch vor der Pubertät von ihren Eltern verlassen wurden und in ihren jeweiligen Ziehfamilien gewaltige Probleme hatten. Beide haben sich aufgrund dieser negativen Erfahrungen in sich selbst zurückgezogen und so wichtige Teile des Umgangs mit anderen Menschen nie gelernt. Dieser letzte Punkt ist der Hauptanker für meine Empathie mit diesen Charakteren. Ich kann unmöglich nachvollziehen, wie schlimm es sein muss schon als Kind die eigenen Eltern zu verlieren oder von den Hauptbezugspersonen als Belastung wahrgenommen zu werden. Denn meine Familie hat mich immer liebevoll unterstützt. Aber trotzdem ist um die Zeit herum, als ich in die Grundschule kam, irgendetwas bei mir schiefgelaufen, womit es für mich immer schwieriger wurde, mich mit Gleichaltrigen zu verstehen und Freunde zu finden. Über die genaue Ursache kann ich nur spekulieren, aber ich glaube, dass meine Tendenz zu emotionalen Überreaktionen eine wichtige Rolle gespielt hat. Wie auch immer, im Teenageralter hatte ich mich dann ähnlich weit von den meisten meiner Mitmenschen isoliert, wie das bei Chise oder Rei der Fall ist.
Nun da wir die Ähnlichkeiten etabliert haben, kommen wir zu den Unterschieden. Chises Vergangenheit ist weitaus extremer als Reis. Das fängt beim Verlust der Eltern an. Während Rei seine Eltern in einem Verkehrsunfall verlor, hat Chises Vater sie geradeheraus im Stich gelassen, und ihre Mutter hat versucht sie zu ermorden, bevor sie sich vor ihren Augen selbst umgebracht hat. Hier gibt es aber einige Probleme, zumindest im Rahmen der Serie. Die groben Umstände um Chises Vergangenheit sind schon früh bekannt (Vater verschwunden, Mutter greift sie an, tötet sich selbst). Und solange man nur diesen groben Umriss kennt, ist alles in Ordnung, aber später in der Serie gibt es eine Folge, in der die ganze Geschichte dazu erzählt wird. Man denkt, dass man endlich mehr erfährt über die Beweggründe von Chises Eltern und was zur Tragödie geführt hat, aber Fehlanzeige. Chises Vater verschwindet wirklich quasi grundlos. Der einzige Hinweis ist die gruselige Figur, die er durchs Fenster sieht. Das erklärt rein gar nichts. Als Folge muss Chises Mutter von da an alle möglichen Jobs annehmen, um für sie und sich selbst finanziell zu sorgen. Das bereitet ihr enormen Stress und in einem Moment der Schwäche flüstert eine Stimme ihr ein, dass ohne Chise alles einfacher für sie wäre. Die Stimme scheint mir ein Hinweis darauf, dass sie mentale Probleme hatte. Aber auch das ist nur Spekulation. Sehr viel mehr erfährt man nicht.
Zum Glück gibt es noch die OVA "Hoshi Matsu Hito", die Chises Leben nach dem Tod ihrer Mutter beleuchtet. Kurz gesagt ist die gezeigte Familie, die stellvertretend für alle steht, bei denen Chise über die Jahre gelebt hat, nicht fähig durch Chises Angst zu ihr durchzudringen, was für die Mutter Stress und Verzweiflung auslöst, welche die Familie auseinanderzureißen drohen. Die Kinder erkennen Chise als Grund für diesen Familienkrach und fangen an sie zu hassen, während die Eltern händeringend versuchen, sie loszuwerden. Die OVA zeigt sehr schön die speziellen Probleme, die Chises Präsenz in der Familie auslöst, was dazu führt, dass Chise sich als Belastung für andere betrachtet. Das ist schonmal besser als die nebelhaft definierte Rolle, die sie bei der Geschichte ihrer eigenen Eltern gespielt hat, aber es ist immer noch deutlich weniger als 3-gatsu no lion zur Definition von Reis Trauma bringt.
Der Fokus von Chises Trauma liegt klar beim Verlust ihrer Eltern, insbesondere der Mutter. Dadurch dass sie erst noch von ihr angegriffen wurde hat sie vollkommen das Vertrauen in das Konzept von Liebe verloren. Wenn die eigene nächste Bezugsperson fähig ist einen fast umzubringen, wem soll man dann noch vertrauen? Reis Trauma hingegen liegt vielmehr beim Schaden, den er in seiner Ziehfamilie verursacht hat. Reis Problem ist in dieser Hinsicht quasi das Gegenteil von Chises. Während Chise sich vor Angst überhaupt nicht in die neuen Familien eingliedern konnte, war Rei so eifrig bemüht, seinen Adoptiveltern zu gefallen, dass er sich quasi zu gut eingegliedert hat. Er war so ein gutes Kind und wurde von seinen Adoptiveltern so sehr geliebt, dass diese ihre leiblichen Kinder vernachlässigten. Die Kinder hielten dem Druck, ständig mit dem perfekten Rei verglichen zu werden, nicht mehr stand und gaben auf oder rebellierten, wodurch die Beziehung zu ihren Eltern nachhaltig beschädigt wurde, und ihre Leben aus den Fugen gerieten. Deshalb betrachtet Rei sich als ein Art Parasit, der seine Adoptiveltern dazu manipuliert hat, ihre eigenen Kinder zu seinen Gunsten zu verstoßen.
Ich hatte zwar gesagt, dass die Details von Chises und Reis Traumata nicht auf mich zutreffen, aber das hier ist eine Ausnahme. Früher habe ich immer Zeugnisnoten mit meinem Bruder verglichen und eine Weile lang war es ein fairer Wettbewerb. Er konnte sogar eine Klasse überspringen, aber er hatte auch größere Probleme mit den anderen Kindern als ich und irgendwann war es ihm nicht mehr möglich mit meinen Leistungen mitzuhalten. Über die Jahre hat er mehrere Diagnosen angesammelt, wie ADHS und Depressionen, und nach mehreren Schulwechseln, musste er die Schule letztlich abbrechen. Ich frage mich immer noch, wie viel davon, was er erleiden musste, mit dem Leistungsdruck, den ich implizit auf ihn ausgeübt habe, zusammenhängt. Dieses Problem, das mir zu schaffen macht, ist nicht ganz unähnlich zu Reis Situation; deshalb fühle ich mich ihm noch mehr verbunden.
Aber auch ohne diese persönliche Komponente finde ich, dass Reis Trauma deutlich besser ausgearbeitet ist als Chises, auch weil es sich nicht auf Fantasy-Elemente stützt um die zwischenmenschlichen Beziehungen zu erklären. Magus' Bride verlässt sich auf die rohe emotionale Gewalt des Bildes einer Mutter, die ihre Tochter würgt und sich dann vor ihren Augen in den Tod stürzt. Das Flattern des Vorhangs, in dem Moment, in dem sie fällt, ist das stärkste emotionale Kürzel für Chises Trauma. Ich muss zugeben, dass 3-gatsu no lion kein vergleichbares Bild für Reis Leiden hat, aber dafür verdeutlicht es viel besser die destruktiven Gedankengänge, die jemanden dazu führen, sich selbst zu hassen.
Stimmung und Präsentation
Slice-of-Life-Serien definieren sich nicht dadurch, dass ihre Geschichte mitreißend ist, sondern durch die Emotionen, die sie rüberbringen. Daher ist es unerlässlich über die Stimmungen der Serien zu reden, und darüber, wie diese präsentiert werden. Insbesondere möchte ich über die visuelle Gestaltung reden, weil ich absolut besessen davon bin. Bestimmt 90% der Gründe, warum ich Anime schaue, hängen damit zusammen, dass ich coole Bilder, ausgefallene Animationsstile und ausdrucksstarke Farben sehen will. Das ist die Kategorie, in der 3-gatsu hoffnungslos überlegen ist.
Die erste Episode von 3-gatsu no lion beginnt mit einem Teaser. Tropfen auf dem schwarzen Wasser verursachen kreisförmige Wellen, die sich verformen wie zwei Strudel oder ein Paar Augen vielleicht. Der Wind peitscht über die Wasseroberfläche. Reis schwarze Silhouette vor einem blauen Himmel, seine Haare und Kleidung werden vom rauen Wind hin und hergezerrt. Danach kommt das Opening, worin Rei selbst ins Wasser fällt, was einen thematischen Faden aufbaut. Nach dem OP spricht ein Mädchen über Rei. Er habe nichts: keine Familie, kein Zuhause, keine Freunde. Eine dissonante Melodie spielt. Alles ist farblos. Ein Badeabfluss unterstreicht das Gefühl von Leere. Die Wellen aus dem Teaser tauchen wieder auf. Der Wind bläst. Das Mädchen lächelt; sie genießt es ihn zu quälen. Er steht nur da, im Schatten einer Brücke und schaut stoisch in die Kamera, während der Wind an ihm zerrt. Er kann nichts erwidern. Er schaut weg. Das Mädchen schaut arrogant auf ihn hinab. Der Schatten der Brücke, aber ohne ihn. Er gehöre nirgendwo hin. Alles wird schwarz. Unter Wasser. Luftblasen steigen zur Oberfläche. Er ertrinkt, wie im OP. Er wacht auf. Der Albtraum ist vorbei, aber das Gefühl von Leere bleibt.
Das ist die Stimmung, die die Serie in den ersten 30 Sekunden nach dem OP aufbaut. Und jede einzelne dieser Sekunden sieht fantastisch aus mit harten Schnitten zwischen flüssigen Bewegungen in außergewöhnlichen Stilen. Insbesondere der Shot von Rei unter der Brücke benutzt eine experimentelle Animationstechnik, die absolut genial aussieht. Die ganze Szene reißt einen sofort mit in den Gefühlszustand des Protagonisten. Und das ist symptomatisch für die gesamte Serie. Der Anime scheut keine Mühen, um jede Stimmung und jedes Gefühl vollständig auszudrücken und an den Zuschauer zu bringen.
Magus' Bride dagegen zeigt meist einfach nur die Dinge, die passieren. Und das ist zu oft einfach nur Chise, wie sie dasitzt, melancholisch dreinblickt und sich mit irgendjemandem unterhält. 3-gatsu zeigt während solcher Szenen irgendwelche visuellen Metaphern oder interessante Kamerawinkel oder benutzt andere Farbpaletten oder Zeichenstile. Natürlich hat auch Magus' Bride cool gemachte Stellen. Angewandte Magie z.B. sieht meist sehr schön aus; oder Momente wie die Flashbacks, die Chise in Episode 1 hat, wo ihre Verwandten darüber reden, was für eine Belastung es wäre sie aufzunehmen, während eine Hand aus dem Grab nach ihr greift und sie kneift die Augen zu und stülpt die Hande über die Ohren; oder der eine Cut in Episode 8, wo Ruth dem Leichenwagen hinterherrennt, der komplett anders und viel besser aussieht als alles andere drumherum. Aber solche Momente kommen in Magus' Bride eben nur ab und zu, im Gegensatz zu 3-gatsu, wo fast jeder Moment so ausgeschmückt wird.
Wow, dieser Post ist ziemlich lang geworden dafür, dass ich eigentlich nur Leute, die wie ich von Magus' Bride enttäuscht waren, dazu bringen wollte, mal in 3-gatsu reinzuschauen. Möglicherweise auch als Sühne dafür, wie vielen Leuten ich Magus' Bride in meiner anfänglichen Euphorie empfohlen habe. Wie auch immer. Das kurze Fazit ist, dass 3-gatsu no lion sowohl stilistisch als auch von der Substanz mehr hergibt als Magus' Bride. Danke fürs Lesen, falls ihr diesen gigantischen Textblock tatsächlich komplett gelesen habt, und erzählt mir in den Kommentaren, ob ihr mit mir übereinstimmt oder nicht, oder wenn euch sonst noch was zum Thema einfällt, worauf ich hier nicht eingegangen bin. Bis zum nächsten Mal.
Kommentare 4
Freigeist
Erstmal großes Lob und Respekt für diesen Artikel. Du hast die Aspekte sehr detailliert erkärt und alles mit den richtigen Worten beschrieben. Generell schreibst du sehr gute Artikel im Forum (so nebenbei bemerkt).
Dass Die Braut des Magiers mich in einen emotionalen Bann gefangen hält, ahnte ich schon, als ich im Trailer Chise's Blick sah. Aber der Rest der Geschichte mit Elias war dann irgendwie fade. Der Bann hielt also nicht lange an. Im Verlauf des Anime fehlt es an Leidenschaft, sodass zwar viel angesprochen wird, dies aber recht oberflächlich scheint. Mir gefällt in deinem Artikel der Vergleich mit 3-gatsu no lion, welchen ich noch nicht sah. Allerdings ist er nun auf meine Liste gewandert, sodass er hoffentlich bald in Angriff genommen wird.
Haggard
Ich hab den Text in Teilen leider überfliegen müssen, aber ich les ihn noch nach... nachdem ich bei 3-Gatsu no Lion etwas weiter bin als Epsiode 8 xD
Ich bin dir für die Empfehlung aber immer noch dankbar, nach genau so was wie 3-Gatsu no Lion hatte ich damals gesucht. Ein mit viel Herzblut gemachter Anime, mit Humor, aber auch Ernsthaftigkeit, den man sich prima dann anschauen kann wenn man nach Entspannung sucht, den Verstand aber auch nicht ganz abschalten will.
Und der mir immer wieder nicht nur mit seiner Geschichte, den sympatischen Charakteren, mit tollen Soundtracks (En fermant les yeux nur als Beispiel :3) und wundervollen Bildern über den e i n e n (wahrscheinlich auch aufgrund meiner eigenen unterkühlten Sozialisation) befremdlichen Moment hinweghalf... ... xD
InfernoCop Autor
Gern geschehen. Freut mich, dass er dir soweit gefällt ^^
Die Serie ist wirklich durchgängig super angenehm zu schauen, ohne die Intelligenz des Zuschauers zu beleidigen. So gut schaffen das nur wenige.
Bin mir nicht ganz sicher, welchen Moment du meinst, der befremdlich war :?
Haggard
Ach, der Moment auf den ich mich bezog findet sich etwa in der Mitte der zweiten Episode. Kurz nachdem Akari Rei (den man abgefüllt und auf der Strasse liegen gelassen hat...) mit zu sich nach Hause genommen hat. An Akaris Stelle wärs mir schwer gefallen Rei die selbe Art von Hilfe zukommen zu lassen die sie ihm zuhause zukommen lies...
Aber längst nicht so schwer, wies mir an Reis Stelle gefallen wäre, sie anzunehmen... ... xD"
Egal, da mich die Neugier übermannte und ich deinen Eintrag einfach zur Gänze lesen musste hab ich gemerkt, dass meine Kommentare den Sinn des Blogs ohnehin sehr verfehlen. Deshalb kann ich dem, was du dazu geschrieben hast nur vorbehaltlos zustimmen. Ich kenne zwar den Manga nicht, jedoch haben sich die Macher des Anime merklich darum bemüht, die Mittel und Stärken des Mediums Anime zu nutzen und gekonnt auszuspielen - und dies ist ihnen an mehr als einer Stelle auch gelungen.