An meinen geschätzten Kollegen Haggard,
18. Dezember 1874
Verehrter, lieber Kollege,
in einem beschaulichen Dörfchen wie Harewood machen Geschehnisse, zumal von solcher Brisanz wie das vorliegende, schnell die Runde, sodass ich nicht an Ihrer Kenntnis über den am gestrigen Abend geschehenen Mord zweifle. So sehr schon die bloße Anwesenheit des Todes in unserer Mitte dazu als ausreichend scheint, unseren Alltag wie ein Leichentuch in Furcht verblassen zu lassen, so scheint die Tatsache, dass es sich um eine von uns allen hoch geschätzte Kollegin handelte, dem Leben jede Farbe genommen zu haben. Es lässt sich nicht ungeschehen machen, Krümelkatze ist tot, und ihr Mörder befindet sich noch immer unbehelligt in unserer Mitte.
Zeit meines Lebens bemühte ich mich darum, die Werte und Normen, die meine werten Eltern mir vermittelten, gewissenhaft zu vertreten. Vertrauen und Zuversicht in von mir hoch geschätzte Mitmenschen gehörten ebenso dazu wie das strikte Ablehnen des Denunziantentums, doch nach den Ereignissen des gestrigen Abends scheint es vergebens, die Täterschaft eines unserer Kollegen in Abrede zu stellen.
Ich hoffe dass Sie mir, sollte sich diese Vermutung als falsch erweisen, einen Nichtausschluss Ihrer Person aus dem möglichen Täterkreis nicht verübeln. Ferner sollten auch Sie meine mögliche Schuld nicht ausschließen, sofern Sie nicht dazu geneigt sind, meine Eindrücke und Mutmaßungen zu teilen, denn meine folgenden Ausführungen lassen sich mit gutem Recht als "haarsträubend" bezeichnen. Es widerstrebt mir zwar, mich auf eine so unsachliche Basis begeben zu müssen, doch fordert die gestrige Bluttat eine Vergeltung, und auch Männer des Intellekts, zu denen wir selbst und wohl zählen würden, können sich diesem Ruf nicht verschließen.
Als erstes möchte ich das Betragen unserer Kollegin Fate ein wenig näher beleuchten, die, als scheinbarer Akt der bloßen Willkür, nur kurz nach dem Leichenfund ein Musikstück zum Besten gab. Ohne jede Frage eine verwunderliche Verhaltensweise, lud der Moment doch wohl weniger dazu ein, sich an Musik zu erfreuen. Umso mehr gelange ich zu der Überzeugung, dass sie etwas damit bezweckte. Doch was?
Betrachtet man das von ihr gewählte Stück, so kommt einem zwangsläufig sofort der Titel in den Sinn. "Witch". Offensichtlich ein Bezug auf eine Hexe, die sich in unserer Mitte befindet.
Entgegen Ihrer Ansicht nach denke ich jedoch nicht, dass es sich dabei um Krümelkatze handelt, sondern eher, dass Fate dies auf sich selbst bezog. Ich habe Fate als Anhänger des direkten, unverfälschten Austausches kennengelernt, in Verbindung mit der Tatsache, dass sie nie vorher eine bedeutende Position wie die Hexe einnehmen durfte, entsteht bei mir ein Bild, dass deutlich genug erscheint, als dass auch jeder andere es eigentlich hätte erkennen müssen. Ich gewinne den Eindruck, dass gerade Nezumis Unbedarftheit gegenüber diesem Sachverhalt eine gewisses Maß an Heuchelei anhaftet.
Grund dafür könnte natürlich ebenfalls sein, nicht den Mörder in besonderem Maße darauf Aufmerksam machen zu wollen, was Ihre und die Passivität Riko Chans in diesem speziellen Fall natürlich ebenfalls erklärt.
Ich hoffe, die Offenlegung dieses mit so deutlich erscheinenden Sachverhaltes verläuft dennoch in ihrem Sinne, denn wägt man die Vor- und Nachteile dieser Handlung ab, so wird schnell deutlich, dass die Nachteile einer scheinbaren Natur sind, und keine realen Aspekte aufweisen. Wie das alte Sprichwort es so bildhaft ausdrückt, ist das Kind längst in den Brunnen gefallen - oder die Hexe. Doch zumindest lässt dies für mich nur die Möglichkeit offen, Fate aus dem Kreis der Verdächtigen auszuschließen.
Ich möchte erneut beteuern, dass diese Handlungsweise zutieft meinem Wesen widerspricht, aber dennoch bleibt mir nichts weiter übrig, als einen der Euren als Mörder anklagen zu müssen. Und da es sich auf diese Weise verhält, bewegen mich Verstand und Intuition gleichermaßen dazu, Nezumi dieser Bluttat zu bezichtigen. Ich kann nur beteuern, dass diese Entscheidung ist in keiner Weise vom Umstand gefärbt ist, von Seiten Nezumis ebenfalls als Mörder bezichtigt worden zu sein, wenngleich es zu einem großen Teil die unzureichenden Begründungen dieser Tat sind, die diese Entscheidung ausmachten. Es ist hinreichend dokumentiert, dass ein gewitzter Wolf oft dazu neigt, die Aufmerksamkeit des Adressatenkreises auf bisher stumme Teilnehmer zu lenken, da diese sich, sollten sie ihrer schweigenden Rolle überhaupt entwachsen können, augenblicklich in einer defensiven, geschwächten Position wiederfinden. Die Verbissenheit, mit der Nezumi Vergeltung von mir fordert, lässt mir keine andere Möglichkeit mehr, als auch hier einen solchen Fall anzunehmen. Denkt nicht zu schlecht von mir, nur das Wohlergehen dieser Gemeinschaft liegt mir am Herzen, und umso nachdrücklicher möchte ich nun Nezumis mögliche Schuld zu bedenken geben.
Zum jetzigen Zeitpunkt sind meine Überlegungen dargelegt, sollte ich neue Erkenntnisse über diesen Sachverhalt gewonnen haben, werde ich euch auf üblichem Wege darüber in Kenntnis setzen. Ich hoffe, das ihr die innere Stärke dazu aufbringen werdet, in diesen schweren Tagen nach bestem Gewissen eine Entscheidung zu treffen. Beten wir zu Gott, das es die richtige sein wird.
In kollegialer Verbundenheit
F. T. Bambule
P.S.: Ich schicke diesen Brief per Kurier, ich fürchte, dass ihr ihn erst am morgigen Tage zu lesen bekommen werdet.