Das Geräusch ihrer rhythmischen Flügelschläge riss ihn aus seinen Gedanken. Wie lange hatte er überhaupt so gedankenverloren dort oben gesessen? In diesen schwindelerregenden Höhen, in die ihn normaler Weise kein Geschöpf der Welt je hätte zerren können? Er wusste es nicht, aber je länger er keinen festen Boden mehr unter seinen Füßen zu spüren vermochte, umso mehr verlor das Treiben auf Erden an Bedeutung für ihn. Und so sehr er sich auch immer gegen den Gedanken des Abhebens gesträubt hatte, nun, da er mit diesem wundervollen Geschöpf die Wolken zu berühren wagte, fühlte er sich von Sekunde zu Sekunde wohler und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass dieser Flug niemals enden würde. Niemals.
„Mach dich bereit Roàn, wir durchqueren gleich die dunkle Zone“
Die Stimme des imposanten Drachenmädchens wehte sanft in seinen Gedanken. Obwohl ihr niemand gelernt hatte zu sprechen und sie nicht im Besitz von Stimmbändern war, flößte sie ihm ihre menschengleiche Stimme in den Geist hinein und mahnte ihn zur Vorsicht. Sie war ein wundersames, faszinierendes Wesen. Betreten blickte Roàn über Gaia’s nachtschwarze Schwingen in das schattige Gebirge hinab und spähte durch etliche zerklüfteten Felsen und karge Landsstriche. Es war seltsam. Kaum durchquerten sie dieses Gebiet, machte Roàns Brust einem beklemmenden Gefühl platz. Jegliche Leichtigkeit von vorhin war verflogen, das Leben gewann immer mehr an Gewicht zurück, dass das fliegende Gespann auf den Boden zu zerren schien, je weiter sie in die Dunkelheit vordrangen. Und er fühlte sich beobachtet. Als würden ihn tausende Augen aus verborgenen Winkeln fixieren. Dennoch. Er konnte einfach nicht daran glauben dass auch nur eine einzige Menschenseele an so einem trostlosen, toten Fleck leben konnte. War das überhaupt möglich? So ganz ohne sauberes, fließendes Wasser und bepflanzbaren Flächen? Wo dieser Ort doch so viel mehr einer Wüste glich…?
„Sag, Gaia, gibt es hier wirklich Leben?“
Wie zur Antwort warf sie unwillig ihren Kopf hin und her. Irgendetwas stimmte nicht, denn Roàn glaubte unter seinen Fingerspitzen zu fühlen wie sich ihre Halsmuskeln verkrampften. Augenblicklich klammerte er sich wie ein kleines Kind um ihren Hals, denn keines Falls wollte er einen weiteren Sturz von ihrem Rücken riskieren. Es war ihm gleich zu Anfang schon passiert, dieses Mal aber wollte er kein Risiko eingehen. Er würde sich nicht noch einmal vom freien Fall umklammern lassen, mit der schwindenden Hoffnung von ihr wieder aufgefangen zu werden.
„Ich hoffe du bist bereit“ blies sie energisch und unterstrich ihre Ansage mit einem kraftvollen Fauchen das durch die wolkenverhangene Finsternis grollte. So langsam begriff er was sich gerade abspielte. Er hatte den schmutzigen Fleck der sich vor den beiden formiert hatte erst dann wahrgenommen, als unscheinbare kleine Lichtpunkte aus ihm hervor glommen. Dort unten mussten tatsächlich Menschen sein, oder zumindest etwas, was äußert lebendig war, keine Frage. Aber warum war Gaia so aufgebracht? Was musste sie gesehen haben, was ihm entgangen war? Roàns Gedanken wanden sich zu seinem gefährlichen Strudel. Er hasste es, wenn alles so schrecklich schnell gehen musste und ihm die Angst das Denkvermögen raubte. Aber bei Gott, wie sollte man sich auch auf etwas besinnen wenn dieses schuppige Tier im Sturzflug auf etwas zustürmte, was man nicht einzuordnen wusste?
„Denk nach Roàn, denk nach!“ Was war das, was man in den alten Geschichtsbüchern über die dunkle Zone lesen konnte? Er erinnerte sich nur schwach an die unscharfen grauen Bilder deren Konturen sich ihm stets verschlossen. Wie zum Teufel sollte er sich an etwas erinnern das er niemals zu erkennen vermochte? Resigniert presste er sich an Gaia’s Rumpf und ließ das Unheil auf sich zurasen. Es hatte keinen Sinn mehr. Was hätte er auch tun sollen? Ihm waren buchstäblich die Hände gebunden, er fühlte sich gefesselt, geknebelt, unfähig sich zu bewegen, also tat er das was ihm seine Logik eintrichterte. Er presste seine Augenlider fest aufeinander und versuchte das animalische Kampfgeschrei so gut es nur ging zu verdrängen. Immer wieder stieß Gaia unter trommelfellsprengendem Gebrüll auf das schmutzige bündel Leben zu. Sie stieg auf und stürzte sich hinab, kämpfte sich zu den Wolken hinauf und schoss wieder wie ein Pfeil in die kreischenden Massen hinein. So lange, bis auch das letzte Zucken aus den zerrissenen Körpern gewichen war.
Und nun? Nun stand Roàn hier, mit dem Füßen fest auf den Boden der Realität und dem Kopf an kaltem Felsgestein lehnend. Ihm war so schlecht, so unheimlich schlecht und ihm blieb nichts anders übrig als dem Krampfen seines Magens nachzugeben. Warum war das alles so schwer? Niemals hätte er gedacht, dass es so unangenehm werden würde, nach einem Höhenflug wieder mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Und er fühlte sich wie ein Sack Zement, so blei schwer als könnte er nie wieder ein Teil der Wolken sein, die er zuvor noch mit seinen Händen gestreichelt hatte. Gaia hingegen saß regungslos hinter ihm, völlig ungerührt davon dass sie gerade hemmungslos gemordet hatte. Aber warum? Dieses ganze Bild passte nicht, trotze jeder Logik. Warum platzierten sich diese merkwürdigen Gestalten praktisch direkt unter ihnen, mit nichts weiter bewaffnet als brennenden Fackeln? Und warum flohen sie nicht? Was zur Hölle war hier los? Schwer atmend wandte er sich dem Drachenmädchen zu, dass ihn aus golden schimmernden, unergründlichen Augen anblickte. „Gaia… was hast du getan?“
Schnippisch warf sie ihren Kopf auf die Seite und kniff die Augen zusammen.
„DU willst ein Krieger sein?! DU sollst unsere Rettung sein? Was hab ich mir nur dabei gedacht. Prophezeiung hin oder her, offensichtlich bist du doch nicht der, den wir suchen…“
Enttäuscht wandte sie sich ab, stapfte ein paar Schritte davon bis sie sicheres Gelände passierte von dem aus sie sich in die Luft schwingen konnte.
„Halt!“ Roàn stürmte los um ihr den Weg abzuschneiden. Was dachte sie sich nur dabei? Erst zog sie ihn in dieses Gemetzel hinein und dann ließ sie ihn auch noch hier? In diesem stinkenden Schlachtfeld? Dem totesten Fleck der ganzen Welt?! So nicht!
„Was soll das heißen? Prophezeiung? Rettung? Wovon zum Teufel redest du eigentlich?“ Zornig blickte sie ihn an ehe sie sich doch wieder setzte und ihre Augen fest auf ihm ruhten.
„Was glaubst du, was habe ich hier gemacht?“
„Was du gemacht hast? Was für eine dumme Frage! Du hast gemord..-„ „Was für eine dumme Antwort!“ schleuderte sie ihre Gedanken in ihn hinein.
„Du dummer, verweichlichter Mensch! Ich habe nicht getötet! Ich habe die Welt vor einem schlimmen Schicksal bewahrt! Diese Marionetten die du gesehen hast, das waren Ghouls, Leichenfresser aus der Unterwelt. Und sie waren auf dem Weg sich Nahrung zu suchen!“
Wild gestikulierend ging er einen Schritt auf den Drachen zu. „Dann lass sie ihre Nahrung suchen! Dir verbietet man auch nicht das du frisst!“
„IDIOT!“ wütend stieß sie auf Roàn zu, der nicht auf diesen Ausbruch gefasst war und unsanft auf den Boden landete. Die zornspeienden Augen des Drachens machten ihm Angst. War er denn wirklich so dumm? Was war so falsch daran jedes Lebewesen seiner Natur entsprechend handeln zu lassen?
„Wärst du denn gerne ihr Futter? Du Schwachkopf!“
Unglaublich. Er konnte sich nicht erklären woher Gaia diese bösen Worte kannte, aber so langsam überraschte ihn nichts mehr. Was würde sie ihm wohl als nächstes sagen?
„Wir Drachen existieren seit Anbeginn der Zeit. Ihr Menschenkinder seid unsere Schützlinge und es ist unsere Pflicht euch vor Unheil zu bewahren. So war es und so wird es immer bleiben.“
Schnaubend setzte sie sich hin, deutlich gefasster. Jetzt sah sie ihn wieder genauso an, wie an jenem Tag an dem sie sich das erste Mal trafen. Ihr Blick war sanftmütig und edel. Ihre goldenen Augen funkelten aus dem pechschwarzen Gesicht heraus.
„Wir Drachen sind aus einer besonderen Aufgabe heraus entschlüpft. Wie ich bereits erwähnte, wurden wir geboren um euch vor Unheil zu bewahren, denn aus irgendwelchen, mir unerfindlichen Gründen hält man hohe Stücke auf euch. Vor 50 Jahren jedoch ist etwas passiert, was das Gleichgewicht der Welt zum Wanken gebracht hat. Einer aus unseren Reihen hat sich zum Bösen gewandt und euch Menschen eine Prüfung auferlegt. Er konnte die edlen Züge in eurer Rasse einfach nicht mehr erkennen. Und nun… Es ist deine Pflicht eine große Katastrophe zu verhindern. Du musst dich beweißen“
Was redete sie da? Er begriff nicht, alles drehte sich, schien sich gegen ihn zu verschwören und seine Knie waren wieder genauso weich, wie vor wenigen Augenblicken, als er verstört von ihrem Rücken abstieg. Alles schien völlig im Ungleichgewicht. Benommen setzte er sich auf den Boden und griff sich an den Kopf. „
Du erzählst mir hier gerade, dass böse Monster im Begriff sind die Menschheit auszulöschen? Und ICH soll sie davor bewahren?“
Ein irrwitziges Lachen presste sich aus seinem Hals heraus.
„Lächerlich! Ich bin nur ein einfacher Mensch!“